meldet, fährt Maria fort: „Für unsere Vorfahren, ich meine die, die damals noch in der Höhle lebten und mit einem schmucken Bärenfell bekleidet umherstreiften, war Stress noch viel überlebenswichtiger als für uns heute. Und es gab durchaus sehr, sehr stressige Momente für unsere Ahnen. Versetzt euch mal in folgende Situation: Ihr kommt morgens genüsslich aus der Höhle gekrochen, den Schlaf noch in den Augen, reckt und streckt euch erst einmal - und plötzlich hört ihr ein Knacken im Gebüsch. Was ist das - etwa der Säbelzahntiger, dem ihr gestern nur mit knapper Not entkommen seid? Sofort wird euer Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Ihr habt Stress. Abhauen oder draufhauen, Flucht oder Kampf? Was ist die lebensrettende Strategie? Euer Körper schaltet blitzschnell in den Stressmodus. Die Nebennieren schütten die Hormone Adrenalin und Noradrenalin aus. Atmung, Herzschlag und Durchblutung werden beschleunigt, der Blutdruck steigt, damit die Muskeln in Armen und Beinen gut mit Energie versorgt werden können. Das Immunsystem fährt hoch, die Verdauung herunter. Schließlich könnt ihr mit dem Säbelzahntiger keine Toilettenpause aushandeln und erst einmal hinter einem Busch verschwinden.
Ein kurzer Sprint und ihr rettet euch in die Höhle. Ist noch einmal gut gegangen. Die sichere Höhle war ganz nah. Gestern war es knapper. Ihr seid gerannt, was das Zeug hielt, den Atem des Tigers im Nacken. Ihr seid gestolpert, beinahe hätte er euch am linken Fuß erwischt. Ihr habt euch blitzschnell wieder hoch gerappelt, seid über eine Hecke gesprungen und mit letzter Kraft in eure Höhle geflüchtet. Das nenne ich Stress pur. Hat uns dieser akute Stress damals geschadet?“, will Maria nun wissen und fügt schmunzelnd hinzu: „Vorausgesetzt natürlich, wir haben den Kampf oder die Flucht überlebt.“ „Nein, vermutlich nicht. Er hat uns erst ermöglicht, zu fliehen oder zu kämpfen“, vermutet Marens Nachbar zur Linken. „Genau, Stress macht uns leistungsfähig – sofern wir ihm nicht ständig ausgesetzt sind und er nicht chronisch wird. Ein paar stressige Momente können wir durchaus verkraften. Auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger haben unsere Vorfahren die vom Körper bereit gestellte Energie verbraucht. Stresshormone hatten keine Chance, sich dauerhaft im Blut anzusammeln. Doch wie sieht das heute aus? Es gibt sie immer noch – die Säbelzahntiger. Sie haben sich bloß verkleidet - kommen zum Beispiel als Chef daher oder als lauter Nachbar. Unsere Vorfahren haben durch Flucht oder Kampf ihren Stress abgebaut. Wir aber können den Chef nicht verhauen, und weglaufen macht auch keinen guten Eindruck. Der Stress, der uns heute belastet, hat mit den plötzlichen Gefahrensituationen, denen unsere Vorfahren ausgesetzt waren, nicht mehr viel zu tun. Zeitnot, permanente Verfügbarkeit, ein zu hohes Arbeitspensum, dazu noch familiäre Aufgaben – all das führt zu chronischem Stress. Der sichert nicht kurzfristig unser Überleben, sondern führt zu einer Dauerbelastung. Denn unser Gehirn und unser Körper fahren weiterhin ihr Steinzeitprogramm ab. An unseren Reaktionsmustern hat sich nichts verändert. Wir können die tollsten technischen Geräte bedienen und haben doch nach wie vor ein steinzeitdesigntes Gehirn, das sein Stressprogramm abfährt genau wie bei unseren Vorfahren. Die Säbelzahntiger sind moderner geworden, unser Gehirn nicht. Bei manchen ist der Stresspegel inzwischen so hoch, dass sie überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie stehen unter Dauerstrom. Ich will jetzt keinen Vortrag halten über die Folgen. Lasst uns lieber überlegen, wie wir mit Stress umgehen können oder noch besser, wie wir unser Stressempfinden reduzieren können.“
Stressoren und Handlungsmöglichkeiten
„Jetzt sind wir dran“, denkt Maren und sie liegt richtig. Jeder Teilnehmer soll spontan seine größten Säbelzahntiger oder auch Stressoren aufschreiben. Damit keiner lange nachdenken kann, ist die Zeit auf 60 Sekunden begrenzt. Maren hat eine ganz nette Sammlung zusammen bekommen.
Doch das war nur der erste Schritt. Nun sollen alle zu den drei erstgenannten Stressfaktoren innerhalb von 90 Sekunden je mindestens eine Lösungsmöglichkeit entwickeln. „Ich habe geglaubt, ich bin bei einem Entspannungskurs“, denkt sich Maren. Aber da geht es auch schon los. Eigentlich ist es ganz gut nach den Eingangsinformationen über Stress nun selbst aktiv zu werden. Die Kursleiterin erklärt, dass es wichtig ist, den Feind zu kennen. Denn jeder ist durch andere Faktoren gestresst. Bei dem einen sind es die vielen, kaum zu schaffenden Aufgaben, bei dem anderen sein eigener Hang zum Perfektionismus, die schlechte Arbeitsorganisation, fehlende Informationen, die Erwartung, ständig erreichbar sein zu müssen. Wiederum andere leiden unter den Anforderungen der Familie, unter dem eigenen schlechten Gesundheitszustand usw. Die Auswahl an Stressoren ist reich, die Auswahl an Lösungsmöglichkeiten zum Glück auch. Die Zeitvorgabe ist so knapp gewählt, damit der „Bedenkenträger“ in uns gar nicht erst die Chance hat, unsere Ideen madig zu machen mit Sprüchen wie „Das klappt ja doch nicht“. In der Tat hat auch Maren innerhalb dieser kurzen Zeit Ideen entwickelt, wie sie mit ihren Stressauslösern umgehen könnte. Ob sich diese Ideen umsetzen lassen, weiß sie noch nicht. Erstaunlich ist erst einmal, dass ihr so spontan etwas eingefallen ist. Den anderen Kursteilnehmern ist es ähnlich ergangen. Vielleicht ist manches ja viel einfacher als es scheint. „Wenn erst einmal der Anfang gemacht ist, fallen mir bestimmt noch andere Lösungsmöglichkeiten ein“, denkt Maren zufrieden mit dem ersten Teil des Abends.
Doch es geht noch weiter mit der Liste. Nun sollen alle die drei Säbelzahntiger auf ein gesondertes Blatt schreiben, die ihnen am Ärgsten zu schaffen machen. Das können, müssen aber nicht die drei ersten aus der Vorrunde sein, zu denen jeder selbst ja schon Ideen entwickelt hat. Ein A4-Blatt wird in drei Drittel – eines für jeden Stressor - eingeteilt. Nun wandern die Blätter reihum von Teilnehmer zu Teilnehmer und jeder schreibt zu einem der drei Stressoren eine Idee direkt auf das Papier. Am Ende landet das Blatt dann – versehen mit im besten Fall elf Lösungen wieder beim Absender. Natürlich ist die Zeit wieder begrenzt. Das macht richtig Spaß. Da es hier nicht um die eigenen Probleme geht, sprudeln die Ideen noch besser. Es geht wirklich um Spontanität, darum, dem ersten Impuls zu folgen und nicht ins Grübeln zu verfallen, um die beste Lösung zu finden. Das scheint eine gute Übung gegen Perfektionswahn zu sein. Auch bei Maren findet sich Perfektionismus auf der Liste.
Maria ermutigt die Teilnehmer, solche spontanen Listen ruhig öfter anzufertigen: „Es muss dabei nicht nur um Stress gehen. Auch Dankbarkeits- und Ressourcenlisten sind klasse. Denn Dankbarkeit – auch für die vielen kleinen Dinge im Alltag wie die warme Dusche, den duftenden Kaffee oder ein liebes Wort - reduzieren unsere Stressanfälligkeit. Mach dein Denken zum Danken.“ „Welch ein schöner Satz. Den will ich mir merken“, denkt Maren. „Zu wissen, auf welche Ressourcen wir im „Ernstfall“ zurückgreifen können, beruhigt. Das müssen nicht unbedingt andere Menschen oder Dinge sein. Wichtige Ressourcen sind auch unsere eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften“, rundet Maria das Thema ab.
Nun können alle in einer kurzen Pause durchschnaufen, die Keramikabteilung besichtigen, in den mitgebrachten Apfel beißen und vor allem miteinander ins Gespräch kommen. Auch Maren tauscht sich mit einigen aus. Alle haben das Gefühl, dass es eine gute Entscheidung war, den Kurs zu buchen.
Dann geht es auch schon weiter mit einer kurzen theoretischen Einführung. „Haben wir einen tibetischen Mönch unter uns?“, will Maria wissen. Als Reaktion erntet sie Kopfschütteln und Schmunzeln. „Dachte ich mir fast. Man sagt, tibetische Mönche könnten ihren Herzschlag regulieren. In unserer westlichen Welt ist diese Kunst den meisten versagt. Wir können allerdings unseren Atem kontrollieren, zumindest in einem gewissen Rahmen. Im Ruhezustand atmen wir ungefähr 12- bis 15mal pro Minute. Unter Stress atmen wir flach und schnell. Manchmal vergessen wir vor lauter Anstrengung sogar zu atmen. Das halten wir natürlich nicht lange durch. Ich kenne das vom Sportkurs. Bei einer anstrengenden Übung erinnert uns unsere Kursleiterin immer wieder daran, dass wir atmen dürfen. Es heißt nicht umsonst, man hält die Luft an oder da bleibt einem vor lauter Schreck die Luft weg. Wenn wir wissen, dass wir unter Stress schnell und flach atmen, wie können wir gegensteuern, um zur Ruhe zu kommen?“ „Langsam und tief atmen“, antwortet eine Teilnehmerin, die Maren gegenüber sitzt. „Genau, in stressigen Situationen sollten wir bewusst langsam und tief atmen. Ich meine natürlich nicht die Situationen, wo wir tatsächlich einmal weglaufen müssen, sondern vielmehr den ganz normalen Alltagswahnsinn, der uns unter Stress setzt, die vielen ärgerlichen und verletzenden Momente, denen wir ausgesetzt sind. Wir haben ja schon geklärt, dass wir dem Chef weder eine runterhauen noch abhauen können. Warum nehmen wir uns dann nicht die Zeit, uns durch ruhiges Atmen selbst zu beruhigen.
Wir probieren