Raum war aus Holz. Die Wände, die geschnitzten Bücherregale und das Parket. Selbst die Decke war mit quadratischen Holzplatten verkleidet. Bücher über Bücher reihten sich hier aneinander. Die Bibliothek hatten meine Eltern, genau wie ein paar andere Räume, mitsamt der ganzen Einrichtung gekauft. Ich strich mit den Fingern über ein paar der ledernen Buchrücken. Die meisten Titel waren aus goldenen Buchstaben gedruckt worden und auf fast allen stand etwas, das mit Pflanzenkunde, Aromen oder Düften im Allgemeinen zu tun hatte. Ich wischte mir den Staub von den Händen. Die Villa Evie war echt eine Reise in die Vergangenheit.
Zwischen zwei Lesesesseln stand ein alter Globus und mittig im Raum führte eine gusseiserne Wendeltreppe ins zweite Stockwerk. Benno interessierte sich nur für die Weltkugel, die fast so hoch war wie er selbst.
»Guck mal, Luzie!«, rief er. »Eine Riesenkugel mit Beinen.«
Ich lachte und ging zu Benno hinüber. »Das ist ein Globus und er steckt in einem Ständer.«
»Was ist ein Glubos?«
»Globus nennt man das Ding und es zeigt unseren Planeten in miniklein.«
»Aber die Kugel ist nicht mini, sondern fast so groß wie ich!«, protestierte Benno.
»Stimmt! Aber wenn unsere Weltkugel so groß wäre wie du, dann könnten wir auf der Erde keine Häuser bauen. Und darauf herumlaufen könnten wir auch nicht.«
Benno drehte ratlos am Globus und ich versuchte, ihm zu zeigen, wo wir uns darauf befanden. Nur leider war das unmöglich. Der Globus war nämlich gar keine Miniaturweltkugel, sondern etwas völlig anderes. Es waren überhaupt keine Kontinente darauf eingezeichnet, sondern etwas, das aussah wie ein Grundriss aus Pflanzenbeeten.
Was war das denn? So etwas hatte ich ja noch nie gesehen! Einige Pflanzen waren als Symbole auf der Kugel hervorgehoben. Ich versuchte, die Zeichnungen zu verstehen, aber Benno fand die komische Kugel dann doch langweilig und sprang die Stufen der Wendeltreppe hinauf.
»Komm!«, rief er, also folgte ich ihm. Gemeinsam klirrten wir beim Besteigen der metallenen Treppenstufen um die Wette.
Im ersten Stockwerk hatten wir doppelt so viel Platz. Hanne bewohnte ja nur das halbe Erdgeschoss, der erste Stock gehörte komplett zu unserem Teil der Wohnung.
Ich hatte keinen richtigen Überblick über die vielen verwinkelten Zimmer. Bei der Hausbesichtigung hatte Hanne uns hauptsächlich die »hübschen Details« der Villa gezeigt, wie sie es nannte: einen Speiseaufzug, verschnörkelte Türklinken, geschnitzte Blumen und Blüten auf allem, was aus Holz bestand, eine runde Badewanne, die auf vier silbernen Löwenfüßen stand, und so weiter und so fort.
Ich überlegte, wo der Speiseaufzug noch mal gewesen war, vielleicht passten Benno und ich ja hinein und konnten dann damit aus Spaß ein bisschen Fahrstuhl fahren?
Wieder schrillte die Türglocke.
»Das ist das Erste, was hier repariert werden muss!«, meckerte Pa durch den Flur. »Davon kriegt man ja einen Hörsturz.«
Benno lugte durch das Treppengeländer nach unten. »Wer ist daaaa?«
»Ein Junge von nebenan. Er sagt, er heißt Mats!«, rief Pa zurück.
Ich stockte. Wieso war der denn hier? Hatte Leon wirklich recht gehabt und Mats wollte jetzt von mir durch die Villa Evie geführt werden?
»Komm doch rein!«, trällerte Pa im nächsten Moment. »Luzie freut sich bestimmt, wenn sie hier so schnell Anschluss findet. Sie tut sich ja immer etwas schwer damit. Sie ist nämlich etwas schüch…«
»Hör auf!«, rief ich, so laut ich konnte, und beeilte mich, nach unten zu kommen, damit Pa mich nicht noch mehr blamierte. Das war nämlich neben der Musik sein zweites Spezialgebiet. Darin war er sogar einsame Spitzenklasse.
Unten hielt Mats uns zwar einen Basketball entgegen, sah mich gleichzeitig aber mit todernster Miene an. Was sollte das denn jetzt? Nach zusammen Spaßhaben sah das ja nicht gerade aus.
»Können wir rausgehen?«, fragte er.
»Klasse Idee!« Pa lehnte am Türrahmen, klatschte in die Hände und versuchte, trotz seiner ausgebeulten Cordhose und dem Vollbart so lässig auszusehen, als wäre er nur ein kleines bisschen älter als wir. »Unsere fleißigen Stubenhocker brauchen dringend mal ein bisschen frische Luft!«, lachte er.
Während Benno schon jubelte, lächelte ich verkniffen und wünschte Pa zusammen mit seinen Sprüchen an den Nordpol.
»Eigentlich waren wir gerade dabei, das Haus zu erkunden«, rechtfertigte ich mich.
Als Pa aus dem Zimmer ging, verdunkelte sich Mats’ Miene noch mehr. »Es ist aber wichtig!«
»Meinetwegen«, seufzte ich und folgte ihm.
Draußen lehnte ich mich misstrauisch gegen die Hauswand und schaute Mats und Benno zu, wie sie ihre erste Runde dribbelten. Benno himmelte Mats an, wie es nur kleine Jungs taten, wenn sich ein größerer für sie interessierte. Alles, was Mats sagte oder tat, war für Benno sofort Gesetz.
»Und?«, fragte ich schließlich, als Mats den Ball unter dem Korb auf und ab hüpfen ließ. »Was war jetzt so wichtig?«
»Ich will dich warnen«, sagte er knapp und da war er wieder: dieser ernste Blick.
Ich runzelte die Stirn. »Warnen … wovor?«
»Das Haus, in das ihr gezogen seid, ist …« Mats stockte kurz. »Hast du denn noch gar nichts bemerkt? Es gibt haufenweise Gerüchte über die Villa Evie – und ich glaube, ihr solltet davon wissen.«
Ich verschränkte meine Arme und sah ihn an. »Und was für Gerüchte genau, bitte?« Langsam glaubte ich Leon. Mats machte wirklich den Eindruck, als ob er von einer »Gruselvilla« besessen war.
Seine dunklen Augen fixierten mich, bevor er die Stimme dämpfte. »In der Schule haben sie mal erzählt, dass die Villa früher das Versteck eines Geheimbundes war. Irgendein Alchemisten-Orden, der sich heimlich versammelt hat, um giftige Pflanzentränke zu brauen. Andere meinen, dass ein Hexenmeister gefährliche Zaubertränke von hier in alle Welt verschickt hat und deshalb ein Fluch auf der Villa liegt. Manche glauben sogar an Geister, die im Haus herumspuken, und so Zeug. Die ganze Stadt … alle hier kennen unheimliche Geschichten über die Villa Evie. Außer euch wär niemand freiwillig da eingezogen. Nicht mal wenn Frau van Velden das Haus verschenkt hätte.«
Mir fiel die Kinnlade runter. Das also hatte Mats’ Bruder mit »Gruselvilla« gemeint? Hier sollte es ernsthaft spuken? Das war doch völliger Schwachsinn!
Neben mir fing Benno langsam an zu quengeln, weil er weiterspielen wollte, aber ich ignorierte ihn.
»Deshalb bekommen wir so oft Besuch? Alle wollen gucken, ob sie einen Geist finden?« Ich konnte nicht anders und prustete los.
Mats nickte, lachte aber nicht mit. »Ganz genau. Ich meine … klar, die Leute hier sind alle bloß neugierig, aber …« Er nahm einen tiefen Atemzug. »Die alte Hanne hat früher nie jemanden einfach mal so ins Haus gelassen. Nie! Ihr seid die Ersten. Das sollte euch doch zu denken geben.«
»Na ja, wir sind ja auch die neuen Hausbesitzer.« Ich schmunzelte, verkniff mir aber einen Kommentar dazu, dass Mats selbst ein gutes Beispiel für die neugierigen Leute hier war. »Also für mich klingt das nach abergläubischem Quatsch oder einfach nur nach schwer gelangweilten Nachbarn.«
Was in dieser winzigen Stadt auch kein Wunder war, fügte ich in Gedanken hinzu.
Hinter mir quietschte etwas und ich drehte mich um. Am Gartenzaun bremste der Postbote mit seinem Fahrrad und winkte uns zu.
»Post für die Villa Evie!«
Ich ging zu ihm rüber und nahm eine Postkarte und einen Umschlag mit ausländischen Briefmarken und Stempeln entgegen. Ich überflog den Namen, der fein säuberlich in schwungvollen Buchstaben auf den Brief geschrieben worden