den Brief. Wie immer. Der nimmt alles für diesen Herrn de Bruijn entgegen. Der meint, er kennt den.«
»Willem, der Gärtner?«, fragte ich sicherheitshalber.
Der Postbote trat wieder in die Pedalen. »Genau, Willem Boer! Gebt ihm einfach den Brief.«
Ich sah dem Postfahrrad hinterher und drehte erst mal die Karte um. Vorne war ein Foto von einem menschenleeren weißen Strand und einem türkisblauen Meer drauf. Sofort bekam ich gute Laune und las.
Hi, Landei! Wie wohnt es sich denn so im neuen Schloss? Benimmt sich der Butler und kocht die Köchin auch gut? Ich will alles wissen! Ich bin schließlich schon seit einer Woche hier und will endlich hören, wie es dir geht. Meld dich doch mal und schick mir ein paar Angeberfotos vom Schloss. Ich vermiss dich! Mona
Ich kicherte über Monas Art, mit der sie seit Wochen versuchte, mir den Umzug leichter zu machen. Natürlich wusste sie längst, dass die Villa mehr Bruchbude als alles andere war. Glücklich drehte ich ihre Karte in meiner Hand und lief um das Haus herum zum Gewächshaus. Wenn man Willem irgendwo traf, dann wahrscheinlich dort. Aber heute war er nirgends zu sehen und die Tür zum Gewächshaus war geschlossen. Ein knallgelbes Schild mit der Aufschrift Betreten verboten! hing sperrig darüber. Ich ging trotzdem darauf zu und griff nach der dunkel angelaufenen Messingklinke. Die Glasscheiben des Gewächshauses waren dampfig beschlagen, weshalb man nicht ins Innere sehen konnte. Hinter mir knirschten Schritte im Kies.
Dann hörte ich Mats’ Stimme: »Du solltest da echt nicht reingehen.«
Ich drehte mich um und funkelte ihn an. »Hat dir schon mal jemand erklärt, was das Wort aufdringlich genau bedeutet?«
Mats hob abwehrend die Hände. »Ich bin nur an meiner Umwelt interessiert.«
Ich verzog das Gesicht und drehte mich wieder dem Gewächshaus zu. Von mir aus sollte dieser Nervtyp eben zugucken, wie ich einen Brief ablieferte. Ich drückte auf die Türklinke und betrat das Glashaus. Feuchte Luft schlug mir entgegen. Puh, war es hier drin schwül! Zwischen unzähligen Pflanzenbeeten standen Kübel mit Bäumen und exotischen Gewächsen. Weiter weg reihten sich auf langen, hüfthohen Tischen grüne Pflänzchen. Für einen Moment war ich fast geblendet von den Tausenden Blüten um mich herum. Wie ein magischer Regenbogen breiteten sie sich unter dem Glasdach aus. Noch nie hatte ich so viele fremde Blumen und knorrige Gewächse auf einmal gesehen. Kurz fühlte ich mich wie in einem verzauberten Märchenwald.
»Hallo?«, rief ich durch die Pflanzen, die an manchen Stellen fast bis zu meinen Schultern wuchsen. »Willem Boer? Sind Sie da?«
Als ich die ersten Schritte in den Gang machte, fielen meine Augen auf ein paar Pflanzenbeete, in denen kleine violette Blumen wucherten, die flach über die Erde rankten.
Ich wollte mich ihnen gerade entgegenbücken, als mich plötzlich jemand lauthals anbrüllte: »Was zum Henker erlaubt ihr euch!«
Vom anderen Ende polterte der Gärtner in schweren Stiefeln auf mich zu. Über seiner Schulter trug er eine Harke. Die Art, wie er sie trug, erinnerte mich an einen Baseballspieler. Instinktiv wich ich ein paar Schritte zurück und stolperte geradewegs in Mats hinein, der auf einmal hinter mir stand.
»Verschwindet, ihr Lausebälger!«
Lausebälger? Echt jetzt? Wer redete denn bitte heute noch so?
»Sie … sie hat einen Brief«, kam Benno mir zu Hilfe. Mein kleiner Bruder war uns also auch hinterhergeschlichen.
Der Gärtner blieb breitbeinig vor mir stehen. »Einen Brief?«
Wir standen uns so nah gegenüber, dass ich die frische Erde, in der er wahrscheinlich gerade gegraben hatte, stark an ihm roch. Obwohl. Seltsam – als ich auf seine Hände schaute, waren sie blitzsauber.
Ich streckte ihm den Brief entgegen. »Das nächste Mal können Sie ihn sich selbst bei der Post abholen.« Okay, normalerweise war ich eher schüchtern, aber unfreundlich sein? Das konnte ich auch!
Als hätte er Angst, ich könnte ihn wieder einstecken, riss mir der Gärtner den Brief aus der Hand. »Der ist für mich!« Seine Worte knurrte er so undeutlich, dass ich mir nicht sicher war, ob er nicht etwas anderes gesagt hatte.
Er ließ den Brief in der Brusttasche seiner grünen Latzhose verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben. »Wagt es ja niemals, einen meiner Briefe zu öffnen! Und nun empfehlt euch gefälligst! Na los, raus hier! Mein Gewächshaus ist kein passender Ort für unartige Blagen, wie ihr es seid!« Der Gärtner wedelte mit einer Hand Richtung Tür. Es war die gleiche Handbewegung, mit der man lästige Fliegen verscheuchte.
Ich drehte mich ohne ein weiteres Wort um und stapfte davon. Die Jungs folgten mir schweigend im Gänsemarsch.
Draußen warf ich Mats einen fragenden Blick zu, aber er kam mir zuvor: »Siehst du? Ich hatte dich ja gewarnt!« Mats wurmte es anscheinend immer noch, dass ich ihn vorhin aufdringlich genannt hatte.
»Pfff! Normalerweise bedanken sich Leute, wenn man ihnen ihren Kram hinterherschleppt«, beharrte ich, obwohl sich langsam, aber sicher Zweifel in meinem Kopf auftaten.
Warum war es überhaupt verboten, das Gewächshaus zu betreten? Was stellte sich der Alte so an?
»Kooomm!« Benno reichte es und er zog Mats am T-Shirt, damit er endlich mit ihm Basketball spielte. »Du hast es versprochen! Und Versprechen muss man halten.«
»Na gut, Kumpel!« Mats strubbelte Benno durch die Haare und winkte mich hinterher.
»Ich komm gleich nach«, versuchte ich, mich rauszureden, und verdrückte mich eilig, bevor einer der beiden protestieren konnte. Als die Jungs außer Sichtweite waren, huschte ich zurück zum Gewächshaus und überlegte, wie ich mich seitlich an den beschlagenen Scheiben entlangschleichen konnte. Vielleicht entdeckte ich ja etwas, das Willems komisches Verhalten erklärte.
Zwischen dem Gewächshaus und der Villa Evie lagen bestimmt fünfzig Meter, aber zum Glück wucherte der Garten wild vor sich hin. Hecken und Büsche schoben sich ineinander und taten ihren Teil, dass ich zwischen ihnen verschwand. Ich kniete mich in ein Versteck aus Ästen und Blättern und wartete. Mitten im wuchernden Unkraut hatte ich Zeit, an den Scheiben hinauf zur Dachspitze zu sehen. Die Sonne spiegelte sich im Glas und warf mit Lichtfunken um sich. Zugegeben, das alte verschnörkelte Glashaus war, trotz all des Rosts daran, wirklich schön.
Drinnen war es jetzt völlig still, also traute ich mich näher heran. Ich schlich an der Wand des Gewächshauses entlang zur Hinterseite. Leider wuchsen die Büsche dort viel zu dicht, sodass ich nicht nah genug herankam. Außerdem waren die Glasscheiben komplett beschlagen. Wie feucht musste die Luft dadrin wohl sein? Absolut nichts konnte ich von außen erkennen.
Aber eine Sache fiel mir auf, als ich mich noch näher an die Scheiben drückte. Es war ein Geruch, der mir bekannt vorkam und der aus den Ritzen kommen musste. Ein Duft, der kräftig nach Erde und noch irgendetwas anderem roch. Etwas Unnatürlichem. Jetzt fiel es mir wieder ein! Nicht nur Willem hatte danach gerochen, sondern auch die verkleidete Frau, die ihn besucht hatte …
4. Kapitel
Auch am nächsten Tag klingelte es wieder an unserer Tür. Aber noch bevor sich irgendjemand in meiner Familie über den schrillen Ton der Klingel beschweren konnte, rief Benno lauthals: »Für miiich!«, und riss fröhlich die Haustür auf.
Tja, und da war er wieder. Offensichtlich wollte Mats nun endlich unsere berüchtigte Villa von innen sehen und ließ sich zuallererst von einem stolzen Benno das Kinderzimmer vorführen.
Wieso war ihm das so wichtig? Konnten ihm die Gerüchte um unser Haus nicht völlig egal sein? Dass es hier nicht wirklich Geister oder Hexenmeister gab, musste ihm doch klar sein.
Vorsichtig lugte ich durch die offene Kinderzimmertür und beobachtete Benno