Rainer Wekwerth

Das Labyrinth erwacht


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die es in diese unwirtliche Gegend verschlagen hat?«

      »Ja.«

      »Von wie viel Leuten sprechen wir?«

      »Vier.«

      »Und du weißt, wo sie zu finden sind.«

      »Ja.«

      »Aber du sagst mir nicht, woher du das weißt?«

      Jetzt schaute auch Jenna ihn erwartungsvoll an. In der Ferne zuckten Blitze über den nachtschwarzen Himmel am Horizont. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, drängte Jeb.

      »Okay – Jeb. Sieht so aus, als hättest du einen Plan. Ich schnapp mir meinen Rucksack und dann erzählst du mir unterwegs alles ganz in Ruhe.«

      León ging einige Schritte zur Seite, bückte sich, dann fluchte er plötzlich laut.

      »Hijo de puta!«

      Jeb wandte sich um. Der tätowierte Junge durchpflügte mit weit ausholenden Armen das Gras, sein Blick wanderte hektisch über den Boden.

      »Was ist los?« Jenna, die sorgenvoll den Himmel betrachtet hatte, drehte sich um, während Jeb dem tätowierten Jungen gefolgt war.

      Leóns Rucksack war verschwunden.

      4.

      Als er aufgewacht war, hatte er entfernte Rufe gehört, die aber sofort wieder verstummt waren. Nun wusste er nicht, aus welcher Richtung die Stimme gekommen war. War es überhaupt eine Stimme gewesen?

      Die Ebene, die sich vor seinen Augen erstreckte, jagte ihm Angst ein. Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Irgendetwas war ganz falsch. Er gehörte nicht hierher.

      Sein Kopf war leer, alles darin wie ausgewischt. Diese Leere nahm ihm den Atem. Hektisch blickte er sich um. Weite, unendliche Weite. Er bekam keine Luft mehr, seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Panisch rang er nach Atem. Vornübergebeugt kauerte er sich zusammen. Doch sosehr er auch versuchte, sich das Gegenteil einzureden, nichts, gar nichts war in Ordnung. Er war nackt, er wusste nicht, wo er war. Er keuchte mühsam auf, beim Versuch, sich zu erinnern, vergrub er beide Hände in seinen Haaren, die auf der einen Seite kurz geschnitten und auf der anderen Seite schulterlang waren.

      Erschrocken zog er seine Hand zurück. Etwas schimmerte in seinem Augenwinkel, instinktiv griff er danach und hielt eine Haarsträhne in der Hand, sie war blau.

      Und da erinnerte er sich.

      Ich heiße Tian.

      Seinen Namen zu kennen, hatte augenblicklich etwas Tröstendes, war ein Anker in dieser fremden Welt. Erschöpft ließ sich Tian auf die Seite fallen und sog gierig Luft ein.

      Der Wind fuhr durch seine übrigen Haare, sie waren schwarz wie die Nacht, aber diese eine ungefähr zwei Zentimeter breite Strähne glänzte in einem fantastischen Blau. Tian betrachtete sie und wusste, dass sie gefärbt war. Er wollte gerade darüber nachdenken, wieso er das wusste, als der Wind die Rufe erneut herantrug. Dieses Mal konnte er die Richtung ausmachen, aus der sie kamen.

      »Hallo!«, rief er laut. Dann noch einmal. Niemand antwortete.

      »Ist da jemand?«

      Das Gras war hoch. Er konnte niemanden entdecken. Er war sich plötzlich unsicher, ob diese Schreie Hilfe oder Gefahr verhießen. Er drehte sich einmal im Kreis, dann zuckte Tian mit den Achseln. Er würde schon herausfinden, wer da war und ob jemand seine Hilfe brauchte.

      Nachdem er vielleicht einen Kilometer weit gegangen war, stolperte er im hohen Gras über etwas. Tian versuchte vergeblich, das Gleichgewicht zu halten, er fiel und landete schwer auf etwas Weichem.

      Erneut packte ihn die Panik, ohne Ziel tasteten seine Hände umher, sein Hirn hatte ausgesetzt, als auf einmal eine Stimme unter ihm fluchte. Auch wenn er nicht alles begriff, kehrte sein Verstand zurück und ihm waren zwei Dinge sofort klar: Die Stimme beschimpfte ihn auf übelste Art und Weise und sie gehörte einem Mädchen.

      Erschrocken und erleichtert zugleich versuchte er aufzustehen, stützte sich dabei auf den Beinen des Mädchens ab, die vor Schmerzen aufjaulte.

      Tian schaffte es endlich, sich aufzurichten. Er wollte sich entschuldigen, aber der Anblick verschlug ihm die Sprache. Vor ihm im Gras lag ein Mädchen in seinem Alter. Rote Haare breiteten sich wie ein loderndes Feuer um ihren Kopf aus. Das Gesicht war herzförmig, mit klaren grünen Augen, die ihn wütend anfunkelten, einer Stupsnase und Lippen, so rot wie Blut. Der Körper des Mädchens war makellos, braun gebrannt, mit kleinen festen Brüsten und schlanken Beinen. In der Mitte ihres Körpers…

      ... eine schmale Hand schob sich davor und eine wütende Stimme zischte: »Was glotzt du mich so an, du Idiot?«

      »Äh… ich habe nicht…«

      »Ich hab doch gesehen, wie du gegafft hast.«

      »Ja, nein, ich wollte dich doch nicht… ich war nur überrascht.« Tian brauchte eine Weile, bis er seine Stimme wiederfand. »Entschuldigung, ich wollte dir nicht wehtun.«

      Das Mädchen kam zum Sitzen und umschlang mit den Armen ihre Beine, sodass sie nicht mehr ganz entblößt vor ihm war. Aber dieser Umstand schien sie nicht weniger wütend zu machen.

      »Na, toll. Mir tut trotzdem alles weh. Was machst du überhaupt hier?«

      »Ich habe deine Rufe gehört und dachte, du brauchst Hilfe.«

      »Ich habe nicht gerufen.«

      »Aber ich habe doch die Rufe gehört und bin ihnen gefolgt. So habe ich dich gefunden.«

      »Und wieso habe ich nichts an? Ist das alles ein blöder Witz oder was?«

      Er zögerte. »Tian, ich heiße Tian«, sagte er dann.

      Das Mädchen kniff die Augen zusammen. »Hab ich dich danach gefragt?«

      »Nein, aber ich dachte…«

      »Du denkst zu viel. Sag mir lieber, wo du die Klamotten herhast.«

      »Die waren in einem Rucksack.«

      »Schau, dort hinten steht ein noch einer, der ist wahrscheinlich für dich.«

      »Was? Wo?« Sie drehte den Oberkörper, hielt dann aber inne und sah Tian eindringlich an. »Wenn du mich jetzt wieder so anglotzt, dann…«

      »Was… äh, nein.«

      »Dreh dich um.«

      »Wie?«

      »Du sollst dich umdrehen, verdammt noch mal! Bist du schwer von Begriff? Ich will aufstehen und zum Rucksack gehen, ohne dass du mir auf den nackten Arsch starrst.«

      »Ach so, okay.«

      Tian wandte sich verlegen ab. Er konnte doch nicht ahnen, dass er über ein nacktes Mädchen…

      »Du glotzt schon wieder, oder?«

      »Ich GLOTZE nicht.« Das Mädchen ging ihm langsam, aber sicher auf die Nerven. Was bildete die sich eigentlich ein?

      »Ich bin übrigens Kathy.«

      Ihre Stimme klang plötzlich wie Honig. Tian schüttelte verwirrt den Kopf. Hinter seinem Rücken raschelte es.

      »Du guckst immer noch nicht, oder?«

      »Nein, verdammt!« Er starrte zum Horizont. Dunkle Wolken zogen auf, schienen das Land und die Berge in der Ferne verschlucken zu wollen. Er grübelte darüber nach, ob er diese Landschaft irgendwoher kannte.

      »Es wird bald regnen«, sagte er.

      »Woher willst du das wissen?«

      »Da, diese Wolken, es sieht nach einem Gewitter aus. Wenn das losbricht, wird’s echt heftig. Wir sollten uns schnell einen Unterschlupf suchen.«

      Ein hämisches Lachen erklang. »Du bist echt ’ne Leuchte. Hier ist doch nur dämliches Gras, so weit das Auge reicht.«

      »Dort hinten ist ein Wald.«

      Kurz