Rainer Wekwerth

Das Labyrinth erwacht


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warst ein braver Junge.«

      Sein Herz pochte wild. Er spürte, dass er rot wurde, und das machte ihn wütend. »Was soll das?«

      Kathy lachte glockenhell und hob beschwichtigend die Hände. »Oh. Hab ich dich erschreckt? Das tut mir leid!«

      Tian reichte es langsam. Er trat vor sie und reckte sein Gesicht vor, bis er ihrem ganz nahe war.

      »Was ist dein Problem?«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Seit ich dich gefunden habe, beleidigst du mich.«

      »Du hast…«

      »Ich habe geglotzt, ja, verdammt. Du hättest auch gestarrt, wenn es umgekehrt gewesen wäre.« Er hob warnend den Zeigefinger. »Und sag jetzt nicht, dass das nicht stimmt. Ich bin hierhergekommen, weil ich dachte, du brauchst Hilfe, und was machst du? Du hast nichts anderes zu tun, als mich zu beleidigen.«

      »Gott, bist du…«

      »Sag jetzt nichts. Wenn du mich noch einmal beschimpfst…«

      »Kann ich mitkommen?«

      Tian sah sie eindringlich an. »Willst du das überhaupt?«

      Sie nickte.

      Dann gingen sie los.

      5.

      Jeb hatte León die Führung überlassen und schritt nun hinter ihm und Jenna her. Sie marschierten schweigend. Er grübelte noch immer über das Verschwinden von Leóns Rucksack nach. Doch auch nachdem sie zu dritt das Gras abgesucht hatten, blieb er wie vom Erdboden verschluckt. Schließlich war es León gewesen, der zähneknirschend seine Wasserflasche genommen und die Suche abgeblasen hatte. Jeb wusste, dass sie ihre Essensrationen nun knapper einteilen mussten, auch wenn er den Gedanken an die nächsten Stunden verdrängte. Zunächst würden sie die anderen finden und den Wald erreichen müssen.

      Ab und zu wandte sich Jenna um und zwinkerte ihm zu. Ihre Freundlichkeit tat ihm gut. Er beobachtete, wie sie mit kräftigen Schritten marschierte, und bewunderte ihre Sportlichkeit. Jenna schien ausdauernd zu sein. Ihr Atem ging ruhig. Sie waren nun schon so lange unterwegs, und während er bereits ein Ziehen in den Oberschenkeln verspürte, war Jenna die Anstrengung nicht anzumerken. Sie schien nicht einmal sonderlich zu schwitzen. Ihm dagegen rann der Schweiß die Stirn hinab.

      Jeb sah in die Ferne. Die dunkle Wolkenwand rückte bedrohlich näher, aber zum Wald war es noch ein ganzes Stück. Er hatte das Gefühl, sie entfernten sich eher von ihrem Ziel, als dass sie es erreichten. Blitze zuckten über den Himmel.

      Als die ersten Regentropfen sie trafen, drehte sich Jenna nach ihm um, blickte seufzend nach oben und ließ sich zurückfallen, bis sie auf gleicher Höhe mit ihm war.

      »Ich bin froh, dass du mich gefunden hast.«

      Er lächelte verlegen.

      »Das hier ist noch längst nicht alles, oder?«

      Er nickte.

      »Aber du sprichst nicht darüber. Nicht jetzt.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

      »Später, wenn wir die anderen gefunden haben, werde ich euch alles sagen, was ich weiß.«

      »Ist es so schlimm?«

      Jeb ging nicht auf die Frage ein. Er sah zu León, der unverdrossen im inzwischen strömenden Regen im Abstand von einigen Metern unter dem immer wieder hell aufleuchtenden Himmel voranging.

      »Was hältst du von ihm?«, fragte er Jenna.

      »Er hat etwas Wildes. Ungezähmtes.« Sie wirkte ernst, als sie die Worte aussprach.

      Ja, sie hat recht. Ungezähmt ist das richtige Wort.

      »Ehrlich gesagt«, seufzte sie, »machen mir diese Zeichnungen auf Körper und Gesicht Angst. Hast du sie dir mal genau angesehen?«

      Jeb nickte. »Leóns ganzes Aussehen sendet eine Botschaft aus, die ich nicht verstehe.«

      Jetzt krachten immer wieder laute Donnerschläge über die Steppe. León reagierte gar nicht darauf. Jeb und Jenna versuchten, das Gewitter ebenfalls zu ignorieren, und setzten ihre Unterhaltung fort.

      »Auf mich wirkt das Ganze wie eine Warnung.«

      »An wen?«, fragte Jeb.

      »Weiß ich nicht, aber diese Bilder sollen Angst einjagen.«

      »Merkst du was? Du hast eben jede Menge Wörter verwendet, die ich sofort verstanden habe.«

      Jenna lächelte verhalten.

      »Ungezähmt, Warnung, Bilder, Angst. Bis zu diesem Augenblick hätte ich die Dinge so nicht benennen können, aber als du es gesagt hast, wusste ich sofort etwas damit anzufangen.«

      Jenna sah ihn nachdenklich an. »Stimmt, ich habe gar nicht darüber nachgedacht… sie waren einfach da.«

      »So war es vorhin auch, mit dem Motorrad.«

      Jeb sah, wie Jenna die Lippen aufeinanderpresste. Die Luft schien kurz zu vibrieren, dann fuhr ein lauter Donnerschlag über die Ebene. Jenna wechselte das Thema.

      »Die vier Menschen, die wir suchen, wer sind sie?«

      »Ich glaube, es sind junge Leute wie wir.«

      »Das alles ist ganz schön merkwürdig, oder?«

      »Ja, ziemlich. Ich frage mich, warum ich so ruhig bei dem Gedanken bin, allein in dieser fremden Umgebung gelandet zu sein.«

      Jenna sah zu ihm auf. »Du bist nicht allein.«

      »Du weißt, was ich meine. Warum renne ich nicht schreiend durch die Gegend oder werfe mich auf den Boden und raufe mir vor Verzweiflung die Haare?«

      »Weil du keine Wahl hast und weil du leben willst. Du hoffst, dass es besser wird.«

      »Und wenn es nicht besser wird?«

      »Es wird besser, glaub mir. Es muss besser werden.« Sie seufzte.

      Und wenn es doch nicht besser wird – werden wir sterben. Er sprach es nicht aus, war sich aber sicher, dass Jenna es in seinem Gesicht lesen konnte.

      Plötzlich zerriss ein schrilles Kreischen die Stille. Jeb packte Jenna am Arm und rannte mit ihr zu León vor. In Jennas Gesicht spiegelte sich Angst, während Leóns Gesichtszüge zu einer Maske erstarrt waren.

      Da erst bemerkte er, dass León ein gefährlich aussehendes Messer in der Hand hatte. Er hielt es locker und entspannt, als ob er den Umgang mit einem Messer gewohnt sei.

      »War es das, was ihr meintet?«, fragte der tätowierte Junge.

      Jeb nickte nur. »Wo hast du das Messer her?«

      »Es war in meinem Rucksack, in einer der Seitentaschen. Immerhin etwas, das ich noch mitnehmen konnte.«

      Erneut erklang ein bedrohlicher Schrei, ein heiseres Heulen, das in den Ohren schmerzte und von dem man unmöglich sagen konnte, ob es von Mensch oder Tier stammte. Aber diesmal schien es weiter entfernt. Gewitter und Regen hatten sich verzogen. León blickte sich um.

      »Was auch immer da draußen ist, es klingt nicht so, als ob es näher kommt. Es scheint sich parallel von uns zu bewegen.«

      Jeb starrte ihn an. »Du weißt, was das bedeutet?«

      »Die Tiere jagen jemand anderen und diese anderen sind wahrscheinlich die vier, die wir suchen.«

      »Keine Tiere, ganz bestimmt keine Tiere«, flüsterte Jeb. »Wir müssen etwas tun!«

      León kniff die Augen zusammen. »Keine Chance. Wir wissen nicht, wo sich die Jagd abspielt, kennen weder die Anzahl der Jäger noch die Beute. Wir haben nur ein Messer. Außerdem: besser sie als wir.«

      Jeb starrte ihn sprachlos an. »Ist das dein Ernst?«

      León erwiderte ungerührt seinen Blick. »Was denn? Was regst du dich auf? Ist es nicht besser, es erwischt jemand anderen und nicht uns? Oder bist du etwa scharf