Rainer Wekwerth

Das Labyrinth erwacht


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Jenna starrten Jeb plötzlich alle anderen überrascht an.

      »Du weißt, warum wir hier sind?« Mischa schnaubte.

      Jeb nickte.

      »Warum? Warum du?«

      »Keine Ahnung. Bitte lasst mich ausreden, auch wenn unglaublich ist, was ihr gleich hört. Stellt eure Fragen später, ich werde sie beantworten, so gut ich kann.«

      Er faltete den Zettel mit der Botschaft auseinander. Jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit.

      9.

      Jeb blickte in die Runde, holte tief Luft und begann, leise zu erzählen. Die Jungen und Mädchen hingen gebannt an seinen Lippen. Seine Geschichte unterschied sich nicht wesentlich von den Erlebnissen der anderen. Bis auf die Botschaft, die er in seinem Rucksack gefunden hatte:

      »Hier steht, dass wir zurückkehren müssen. Und dass es nur einen Weg zurück ins eigene Leben gibt.« Nun las er: »›Du musst diese und alle anderen Welten durchlaufen, wenn du heimkehren willst. Viele Prüfungen warten auf dich, aber du wirst nicht allein sein. Gehe in Richtung der Sonne, viele Stunden von hier entfernt. Auf einer weiten Ebene wirst du andere finden. Menschen, die wie du im Labyrinth gefangen sind.‹«

      Jeb sah auf, als er das Wort »Labyrinth« aussprach. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich blankes Entsetzen, als sie sich in dem Geschriebenen wiedererkannten. Die Gruppe wurde unruhig, jeder versuchte auf seine Weise, diese unglaublichen Worte zu verdauen.

      »Wartet, es geht noch weiter. Denn dieses Labyrinth besteht aus sechs Welten. Das hier ist die erste, die erste von sechs Prüfungen. Hier steht: ›In jeder Welt gibt es Tore, Portale, die euch in die nächste bringen, am Ende des Weges liegt die Freiheit. Derjenige von euch, der alle Welten durchlaufen hat, gewinnt den Preis des Lebens.‹«

      Jeb zögerte, sah die anderen an. Diesmal unterbrach ihn niemand. Sein Auge begann, wieder zu zucken, und er zwang sich auszuatmen. Was er ihnen als Nächstes mitteilen würde, musste er in aller Ruhe verkünden.

      »›Wenn du alle Menschen gefunden hast, wird um Mitternacht ein Stern am Himmel erscheinen, der euch den Weg zu den Toren weist. Ihr habt drei Tage, zweiundsiebzig Stunden, um die Tore zu erreichen. Schafft ihr es nicht, die Tore zu durchschreiten, verschwinden sie und ihr seid bis in alle Ewigkeit in dieser Welt gefangen.‹«

      Ein Ast knackte im Feuer. Jeb schloss kurz die Augen, dann schlug er die Lider wieder auf und sprach weiter. »Aber es kommt noch schlimmer.«

      Kathy räusperte sich heiser. »Nun sag schon.«

      León brummte zustimmend.

      »›Fürchtet euch vor euren Ängsten. Nur die Kraft der Sonne und die Hitze des Feuers können euch vor den Jägern schützen, denn sie vertreibt das wärmende Licht. Wen seine Ängste überwältigen, wird zurückbleiben. Ihr seid sieben Suchende, doch es gibt nur sechs Tore zur nächsten Welt. So wird es in jeder Welt sein, immer werdet ihr ein Tor weniger finden, als ihr Suchende seid. Einer von euch wird stets zurückbleiben, einer wird allein seinen Ängsten gehören. Wer leben will, muss kämpfen. Gegen andere, gegen sich selbst. Am Ende wird nur einer von euch überleben. Weil ihr im Labyrinth seid. Weil ihr verloren seid.‹« Jeb sah auf. Sechs Augenpaare starrten ihn an. »Ich konnte es nicht glauben, aber ich wusste eins: Wenn ich wirklich sechs Menschen finde, dann steht auf dem Zettel die Wahrheit.«

      »Und du hast uns gefunden«, sagte Jenna leise.

      Die anderen schwiegen. Es war schließlich León, der das Wort ergriff. »Ich glaube den ganzen Scheiß nicht. Eine Botschaft. Von wem ist denn diese beschissene Nachricht? Tore. Welten. Der Preis des Lebens… das klingt alles nach einer ziemlich dämlichen Abenteuergeschichte, wenn ihr mich fragt. Eine, mit der man Kindern Angst einjagt.« Er riss die Augen auf und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Uhhhhh, jetzt hab ich aber Angst!« Er schüttelte den Kopf. »Alles Bullshit.«

      »Und was sagst du zu der Tatsache, dass uns Jeb gefunden hat, dass wir sechs Leute sind, genau wie es dort steht?«, fragte Jenna bissig, riss Jeb den Zettel aus der Hand, warf einen Blick darauf und hielt ihn León unter die Nase. »Hier! Lies selbst! Da steht es. Schwarz auf weiß.«

      León wich zurück und wehrte Jennas Hand ab. »Das muss nichts zu bedeuten haben. Jeder könnte den Zettel geschrieben haben. Sogar Jeb selbst.«

      Jenna hielt inne. Sie fixierte León mit ihren Blicken. »Warum liest du nicht?«

      »Sag mir nicht, was ich zu tun habe. Oder was ich zu glauben habe. Es muss eine andere Erklärung geben.«

      »Ach ja? Und Mischas Verletzung? Diese… diese Monster, die ihn gejagt haben?«

      »Vielleicht war er nach dem Aufwachen noch so benebelt, dass er Schiss vor seinem eigenen Schatten hatte und dann gestolpert ist. Abgesehen davon: Wir haben unsere Verfolger nicht gesehen, nur ein Schreien gehört, das auch von irgendwelchen Tieren stammen könnte.«

      »Ich hab sie gesehen«, warf Mischa ein.

      León wandte sich ihm zu. Er lächelte verächtlich. »Vorhin hast du etwas anderes gesagt. Außerdem bist du sofort weggelaufen, wie willst du da wissen, was dich angegriffen hat? Es hätte auch ein Wolf oder ein Bär sein können.«

      »Hätte ich stehen bleiben und anschauen sollen, was es auf mich abgesehen hat? Schon mein Arm wäre fast draufgegangen, nur weil es mich berührt hat!«

      »Wie auch immer, aber ich hätte mir nicht gleich in die Hose gemacht, bloß weil ein paar wilde Hunde herumkläffen und du in einen Kaninchenbau stolperst.«

      Mischa sprang auf. Blitzschnell war auch León auf den Füßen, doch da hatte ihn der blonde Junge mit seinem gesunden Arm schon am Kragen gepackt.

      »Und? Wo ist deine große Klappe jetzt?«, zischte Mischa.

      León lächelte kalt. Er machte eine leichte Kopfbewegung zu seiner rechten Hand. Die Schneide seines Messers schwebte vor Mischas Hals.

      »Der Einzige, der eine große Klappe hat, bist du. Ich hätte versucht, es zu töten. Vielleicht blutet es ja. Und wenn es blutet, kann man es auch töten.«

      »Ich hatte kein Messer.«

      »Lass mich los, Kleiner.«

      »Nimm erst dein beschissenes Messer weg.«

      Mit einem Klicken ließ León die Klinge einschnappen. Dann drehte er sich um und setzte sich auf seine Jacke.

      »Haben wir uns dann alle wieder beruhigt?«, fragte Jeb in die entstandene Stille hinein. Niemand antwortete.

      »Was ist dein Problem?«, wandte sich Jeb an León.

      »Alles, diese ganzen Märchen, die du uns erzählst, dieser komische Zettel. Das ist doch nichts als eine große beschissene Lügengeschichte.«

      »Hast du denn eine andere Erklärung für das, was passiert ist?«

      »Nein.«

      »Wir alle spüren doch, dass hier etwas nicht stimmt. Dass wir hier nicht hergehören, dass wir diesem… Ort hier ausgeliefert sind. Bis vor Kurzem hatte ich wohl zumindest ein Leben, in dem ich anscheinend Motorrad gefahren bin. Und das war bestimmt nicht hier.«

      »Das bedeutet nicht, dass ich das erstbeste Schauermärchen glaube«, erwiderte León.

      »Wir werden ja sehen, ob um Mitternacht der Stern aufgeht, von dem auf dem Zettel die Rede war«, mischte sich jetzt Kathy ein. Sie schwenkte das abgegriffene Blatt Papier in der Hand, das inzwischen die Runde gemacht hatte. »Natürlich klingt das alles selten dämlich, aber der Stern wäre doch der Beweis, dass alles stimmt, was Jeb gesagt hat, oder?«

      »Ich kann auf diesem beschissenen Stück Papier kaum etwas entziffern«, knurrte Tian.

      »Mir geht’s genauso«, stimmte Mischa ihm zu. »Blasse Buchstaben, die nur wenig Sinn ergeben.«

      Kathy schüttelte den Kopf. »Ihr müsst nur richtig hinschauen, ihr Trottel. Da steht alles klar und deutlich. Um Mitternacht wird ein