Rainer Wekwerth

Das Labyrinth erwacht


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bedeutet es schon, einen Stern am Himmel zu sehen? Gar nichts!«

      Kathy fuhr herum. »Hast du etwa eine bessere Idee?«

      »Ruhe«, sagte Jeb leise, aber bestimmt. »Hört auf, euch zu streiten. Wir haben gerade echt andere Probleme.« Er sah León an. »Ich finde Kathys Idee gut. Oder hat jemand einen anderen Plan? Wo sollen wir hingehen? Was sollen wir tun?«

      »Wir könnten versuchen, andere Menschen zu finden, vielleicht hilft uns ja jemand weiter«, sagte Mischa.

      »Ich habe nicht das Gefühl, dass hier Menschen leben, und falls doch, werden wir sie früher oder später finden. Und wer weiß, ob sie uns freundlich gesinnt sind. Also noch mal, hat jemand einen anderen Vorschlag?«

      Alle schüttelten den Kopf.

      »Dann können wir ebenso gut dem Stern folgen und nachschauen, ob die Tore existieren. Sind sie da, wissen wir, dass wir die Wahrheit kennen. Gibt es sie nicht, sitzen wir tief in der Scheiße.«

      Tian lachte auf. »Tief in der Scheiße? Oh Mann, wir sitzen sowieso bis zum Hals in der Scheiße, wenn es stimmt, was Jeb sagt. Habt ihr euch mal klargemacht, was es bedeutet, wenn das alles stimmt?«

      »Eben hast du noch gesagt, du glaubst ihm nicht«, zischte Kathy.

      »Tue ich ja auch nicht, aber falls, nur mal so angenommen, alles so stimmt, dann geht es um unser Leben.« Er wandte sich an Jeb. »Wie war das mit den Toren? Wir sollen darum kämpfen? Sechs Welten und jedes Mal ein Tor zu wenig? Nur einer wird überleben? Mann, wenn das die Wahrheit ist, dann sieht es düster für uns aus.« Er zögerte einen Moment. »Das darf einfach nicht wahr sein. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber meine Fantasie übersteigt das bei Weitem.«

      Es herrschte betroffenes Schweigen, einige nickten. León verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist das alles, was du uns sagen kannst?«, wandte sich León an Jeb. »Woher sollen wir wissen, dass du nicht plötzlich noch so eine Nachricht herzauberst?«

      Sieh an, dachte Jeb. Obwohl er mir nicht glaubt, will er doch sicher sein, alle Informationen zu haben, die er zum Überleben braucht.

      »Nein, das ist alles, was ich weiß.«

      Schweigen legte sich über die Gruppe. Sie alle waren verwirrt, verängstigt und erschöpft. Sie mussten ausruhen. In wenigen Stunden würde der Stern aufgehen, dann hatten sie zweiundsiebzig Stunden Zeit, die Tore zu erreichen. Niemand wusste, wie weit sie entfernt und wie beschwerlich der Weg dahin war. Außerdem machte etwas Jagd auf sie – die Botschaft, die Anwesenheit der anderen sechs und Mischas Zustand, als er auf die Lichtung stolperte, waren Jeb Beweis genug. Und er wusste, sie würden alle ihre Kraft benötigen.

      »Ich denke, wir sollten versuchen zu schlafen. In der Nacht klettere ich auf den Baum und suche nach dem Stern.«

      »Schlafen? Du glaubst tatsächlich, nach allem, was geschehen ist, kann jemand schlafen?«, rief Kathy.

      »Wir müssen uns ausruhen, morgen liegt ein anstrengender Tag vor uns. Zum Glück haben wir das Feuer. Wenn man der Botschaft glaubt, dann werden sie uns hier nicht heimsuchen. Wir sollten also in Sicherheit sein, solange wir uns nicht zu weit vom Feuer entfernen. Außerdem haben wir seit Stunden nichts mehr gehört, kein Schreien, kein Heulen. Das, was Jagd auf uns macht, hat vielleicht im Regen unsere Spur verloren.«

      »›Vielleicht‹ ist ein wenig dürftig«, warf Mischa ein, der bereits in seinen Schlafsack kroch.

      »Ich werde Wache halten, bis ich den Stern gesehen habe. Dann wecke ich einen von euch, um mich abzulösen. Wenigstens lässt der Regen nach. Wir können nur hoffen, dass der Himmel aufreißt und ich überhaupt etwas sehe.«

      »Ganz schön optimistisch.« León hatte sich seine Jacke übergelegt, als notdürftigen Schutz vor der kühlen Nachtluft.

      Habe ich eine andere Wahl?

      Jenna erhob sich. Sie ging zu ihrem Schlafsack und bereitete ihr Nachtlager vor. Den Rucksack schob sie als Kopfkissen unter ihren Nacken.

      Tian, Mary und Kathy machten es ihr nach. Jeder war in Gedanken versunken, schien über das Gehörte nachzugrübeln und versuchte, eine plausible Erklärung zu finden.

      Tian legte sich in Mischas Nähe. Mary rückte etwas an Jenna heran. León lag abseits der anderen. Kathy blieb in Jebs Nähe, der seinen Schlafsack vors Feuer gezogen hatte und schweigend in die Flammen starrte. Es dauerte eine Weile, aber dann hörte das Geraschel auf und die Atemzüge der Jugendlichen wurden ruhiger.

      Jeb hockte in Gedanken versunken auf seinem Schlafsack und fragte sich, was ihnen der morgige Tag bringen würde. Dabei spürte er, wie Kathy ihn anstarrte. Er wandte sich zu ihr um und ihre grünen Augen funkelten im Widerschein des Feuers. Ein Schauer lief über seinen Rücken.

      Jeb wusste, dass er hier und jetzt die Führung übernehmen musste, um aus ihnen eine Gruppe zu formen, die sich gegenseitig unterstützte. Sie brauchten einander, das war ihm sofort klar gewesen. Denn die anderen hatten noch nicht verstanden, dass sie hier in diesem Wald erst am Anfang von etwas Unfassbarem und Gefährlichem standen. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich. Jetzt als Gruppe auseinanderzufallen, würde den Tod von ihnen allen bedeuten.

      Jeb sah in die Runde. Er wollte nicht ihr Anführer sein. Aber er war derjenige, der momentan die Situation am besten überblickte. Wahrscheinlich würde er die Führung bald an León abgeben können, der am geeignetsten dafür war, auch wenn bei ihm die Gefahr bestand, dass er seinen eigenen Weg gehen würde. In allem, was er sagte oder tat, spürte man Leóns bedingungslosen Egoismus.

      Aber auch er braucht die anderen, wenn er überleben will. Hoffentlich begreift er das.

      Dann dachte er an Jenna.

      Sie wäre ideal. Sie wirkt besonnen, verliert in Gefahrensituationen nicht die Nerven und sorgt sich um andere. Er ließ seinen Blick über die restliche Gruppe wandern.

      Sie werden kein Mädchen als Anführerin akzeptieren. Besonders nicht Kathy, es sei denn, sie selbst reißt die Führung an sich.

      Über Mischa und Mary konnte er nichts sagen und Tian würde sich seinem Eindruck nach einfach dem stärksten Mitglied der Gruppe unterwerfen.

      Kathy lag in ihrem Schlafsack eingemummt und beobachtete Jeb. Ihre Hand wanderte nach unten, sie fühlte das Messer in ihrer Hosentasche, es gab ihr ein beruhigendes Gefühl. Sie hatte es in einer der Seitentaschen ihres Rucksacks gefunden und natürlich nicht im Traum daran gedacht, ihren Fund den anderen preiszugeben. Wahrscheinlich hätte man es ihr weggenommen und einem der Jungs gegeben. Nein, sie würde nicht wehrlos sein, egal, was auf sie zukam, sie würde sich zu verteidigen wissen.

      Jeb sieht gut aus, dachte Kathy. Groß und stark, mit markanten Gesichtszügen. Womöglich hat er uns nicht alles verraten, was er weiß. Es würde wichtig sein, in Jebs Nähe zu bleiben. Ihm zu zeigen, dass sie auf seiner Seite war.

      Kathy glaubte jedes Wort, das er gesagt hatte. Nein, »glauben« war der falsche Ausdruck, sie spürte, dass er die Wahrheit sagte. Sie musste ihn als Verbündeten gewinnen. Vielleicht noch mehr als das.

      In ihrer Körpermitte stieg Hitze auf. Langsam ließ sie den angestauten Atem entweichen. Sie würde überleben, egal, was auf sie zukam.

      Wenn es diese Tore gibt, werde ich als Erste hindurchgehen. Ich brauche nur Jeb.

      Und wer weiß, vielleicht können wir in dieser beschissenen Welt außerdem noch ein wenig Spaß haben.

      Sie starrte zu ihm hinüber.

      Du gehörst mir.

      10.

      Jeb war jegliches Zeitgefühl verloren gegangen und er hatte jetzt die Warterei satt. Er erhob sich geräuschlos, um die anderen nicht zu wecken. Stille lag über dem Lager, auch aus dem Wald drang kein Geräusch. Nicht einmal Waldvögel waren zu hören. Er herrschte eine fast unnatürliche Ruhe.

      Plötzlich spürte er, dass jemand neben ihm stand. Er wirbelte herum. Es war Kathy, die schattengleich neben ihm aufgetaucht war. Ihre roten Haare waren zerzaust, aber ansonsten