Rainer Wekwerth

Das Labyrinth erwacht


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Dass hier etwas nicht stimmte. Und doch drängte sich erneut Kathy in seine Gedanken. Mit jeder Minute, die er nicht einschlafen konnte, wuchs sein Zorn auf das rothaarige Mädchen.

      Verdammt, sie hätte ihn nicht küssen dürfen.

      Und er hätte diesen Kuss nicht genießen dürfen.

      Mit diesen Gedanken schlief er schließlich ein und sah nicht, wie sich León geräuschlos erhob.

      León hatte nicht verfolgen können, was auf dem Baum geschehen war. Er hatte sich schlafend gestellt, aber Kathys und Jennas Reaktionen reichten ihm. Wie ein Trottel hatte Jeb zwischen den beiden Mädchen gestanden und das bedeutete, etwas war geschehen.

      Danach hatte er angestrengt die Unterhaltung zwischen Jenna und Jeb belauscht. Es gab diesen beschissenen Stern also wirklich. Er hatte es nicht glauben wollen, aber was änderte das schon. Das Leben war ein Kampf. Er wusste, so war es schon immer gewesen, nur der Schauplatz und die Gegner hatten sich geändert.

      Er grinste siegessicher.

      Verdammt, er würde überleben. Er hatte das einzige Messer der Gruppe und würde es nicht hergeben. Sollten diese Idioten doch sehen, wie sie zurechtkamen. Er blickte in die schlafende Runde.

      Ich könnte mich allein durchschlagen, aber noch brauche ich euch. Wer weiß, was auf uns zukommt, und vielleicht muss man jemanden für die Jäger opfern, um die Tore zu erreichen. Dafür seid ihr hier.

      León bewegte sich wie eine Katze durch die Dunkelheit. Er hatte ein Messer, aber zum Überleben würde er auch Feuer brauchen. Jeb zu bestehlen, wagte er nicht, aber bei Mary sollte das kein Problem sein. Wie ein Schatten glitt er heran. Ohne ein Geräusch zu verursachen, zog er ihren Rucksack zu sich. Doch plötzlich spürte er etwas in seinem Rücken. Langsam wandte er den Kopf.

      Mischa.

      Er lag mit geöffneten Augen in seinem Schlafsack und blickte unverwandt zu ihm herüber. León konnte sein Gesicht kaum ausmachen, aber er war sich sicher, dass Mischa ahnte, was er vorhatte. Langsam ließ er Marys Rucksack sinken und schob ihn wieder neben das schlafende Mädchen.

      Dann erhob er sich geräuschlos und schlich zu seinem Nachtlager zurück. Mischas Blick verfolgte ihn noch immer, als er hineinkroch und die Augen schloss.

      11.

      Tian erwachte als Erster. Graues Morgenlicht schimmerte durch das Blätterdach der Bäume. Ein kühler Nebel war während der Nacht aufgezogen und hing über dem feuchten Boden. Tian blickte zum Feuer. Es war abgebrannt und erloschen. Nicht einmal mehr Glut war darin zu entdecken. Sie würden also aufbrechen, ohne sich davor aufwärmen zu können.

      Er streckte die steifen Glieder und beobachtete, wie die anderen sich müde erhoben, mit den Händen durch die Haare fuhren und sich den Schlaf aus den Augen rieben. Jeb sah übernächtigt aus. Kein Wunder, hatte er doch die halbe Nacht Wache geschoben. Kathy hingegen wirkte frisch und energiegeladen. Ihre roten Haare fielen auf ihre schmalen Schultern herab. In einer sinnlichen Bewegung fuhr sie mit der Hand durchs Haar und ließ sie wieder fallen. Kathy schien einfach nicht hierher zu gehören.

      Wie jemand, der sich auf eine Party vorbereitet und jeden Augenblick von seinem Date abgeholt wird.

      Mary hingegen war nur ein blasser Schatten. Tian hatte das Gefühl, durch sie hindurchschauen zu können, so wenig Präsenz zeigte sie. Ihr makelloses Gesicht, die schwarzen Haare und die vollen roten Lippen. Sie war schön. Aber durch ihre Blässe verschwamm sie fast mit dem Nebel.

      Jenna stand etwas abseits bei Mischa und unterhielt sich leise mit ihm. León war nirgends zu sehen.

      Plötzlich fiel Tian ein, dass er gar nicht wusste, ob Jeb in der Nacht den Stern entdeckt hatte. Rasch ging er zu ihm hinüber.

      »Und? Hast du ihn gesehen?«

      Jebs braune Augen waren unergründlich. Er rief in die Runde und die Jungs und Mädchen traten sofort heran. León erschien wie aus dem Nichts.

      Verdammt, dachte Tian. Der Typ ist eine Schlange. Eben war er noch nicht zu sehen und jetzt taucht er so schnell auf, dass man sich fragt, ob er sich unsichtbar machen kann.

      Grinsend nahm der tätowierte Junge seinen Platz in der Runde ein.

      »Ich bin heute Nacht auf den Baum gestiegen. Kathy hat mir geholfen. Der Stern war da.« Das war deutlich und unmissverständlich.

      »Ihr wisst, was das bedeutet?«, sprach Jeb weiter.

      Alle bis auf León nickten. Seine Lippen umspielte ein geheimnisvolles Lächeln, so als wüsste er etwas, was den anderen verborgen war.

      »Was machen wir nun?«, fragte Mischa.

      Spätestens jetzt war allen klar, dass ihnen Jeb am Abend zuvor die Wahrheit gesagt hatte. Auch wenn dieser Wandel ganz schön schnell gegangen war, fand Tian. Sie durften sich nichts vormachen. Irgendetwas stimmte hier ganz gewaltig nicht. Jebs Worte schienen ihnen die einzige Hoffnung zu sein, die ihnen geblieben war. Sie hatten fast nichts, kannten nur wenig mehr als ihre Namen und sollten sich nun durch fremdes Land schlagen. Gejagt und verfolgt. Und immer einer musste zurückbleiben.

      Werde ich derjenige sein?

      Die anderen Jungs sahen stärker aus als er, durchtrainierter, mit mehr Muskeln. Er versuchte, sich vergeblich an die Zeit vor dieser unmöglichen Situation zu erinnern, aber es wollte ihm nicht gelingen. Er spürte allerdings instinktiv, dass er solche Abenteuer in der Wildnis noch nie erlebt hatte. Selbst die Mädchen machten bis auf Mary einen robusteren Eindruck auf ihn.

      Ja, Mary war das wahrscheinlichste Opfer. Sie war geistig kaum anwesend und versprühte keinerlei Energie. Wahrscheinlich würde sie schon bald zusammenklappen, wenn sie erst einmal losmarschiert waren.

      Werde ich ihr helfen…?

      Seine Gedanken wurden von Jeb unterbrochen.

      »Der Stern leuchtete in der Richtung, den die Sonne am gestrigen Tag bei ihrem höchsten Stand einnahm. Dort müssen wir hin. Vielleicht kann man ihn auch bei Tag sehen, er war ziemlich hell. Das heißt aber, wir müssen wieder aus dem Wald raus. Hier drinnen kommen wir nur langsam voran und wir sehen den Himmel nicht.«

      »Du willst wieder raus auf die Ebene?«, fragte Jenna. »Du weißt, was dort auf uns lauert. Diese… Viecher, die Mischa angefallen haben.« Sie wandte sich an die anderen und Tian staunte über ihre Sicherheit. »Jeb glaubt, dass unsere Ängste Gestalt angenommen haben und Jagd auf uns machen. Immer wenn sie uns sehr nahe kommen, hören wir ihr Kreischen.«

      »Unsere Ängste? Ich will ja nichts sagen, aber das klingt reichlich bescheuert. Wisst ihr, was ich glaube? Ihr habt sie nicht mehr alle.« León lachte spöttisch.

      Jenna ließ sich nicht beirren. »Wovor auch immer Mischa Angst hat, es hat ihn gestern auf der Ebene ohne Schwierigkeiten gefunden.«

      Kathy drängte sich dazwischen. »Ihr seid alle gnadenlos unbegabt. Könnt ihr euch denn gar nichts merken? Auf dem Zettel stand: ›Fürchtet euch vor euren Ängsten.‹ Ja, klar, die hat ja wohl jeder, aber das ist eine Frage der Kontrolle. Oder glaubt ihr, eure Ängste hüpfen als Monster nachts aus eurem Schlafsack und überfallen euch. Mann, werdet erwachsen.«

      »Ich habe sehr wohl zugehört«, meldete sich Mary zu Wort und fing prompt einen bösen Blick von Kathy auf. »Es ging noch weiter: ›Wen seine Ängste überwältigen, wird zurückbleiben.‹«

      »Ja, genau«, Tian wollte jetzt auch etwas beitragen. »Vielleicht eine Art Voodoo-Zauber, was Magisches, wisst ihr, wie in solchen verrückten…«

      »Tian, krieg dich wieder ein.« Mischa wurde es jetzt zu viel. »Wir haben nur die zwei Möglichkeiten, Wald oder Steppe.«

      »Seelentrinker«, flüsterte Mary plötzlich. »Ich weiß nicht, warum mir der Name einfällt, aber er passt zu ihnen. Sie wollen nicht nur unsere Angst, sie wollen alles.«

      Das Rauschen des Waldes war das einzige Geräusch in diesem Moment, stellte Tian fest.

      Jeb nickte mit zusammengepressten Lippen, ging aber