wir dort Wasser finden?«
»Sieh dich um. Gras, nichts als trockenes Gras, aber dort stehen Bäume. Es muss dort Wasser geben.«
Er wandte sich an die anderen. »Seid ihr einverstanden, wenn wir einen Umweg machen und versuchen, bei der Baumgruppe dort drüben nach Wasser zu suchen? Der Marsch kostet uns Zeit, wir verlieren allerdings den Stern nicht aus den Augen. Uns allen würde eine Pause im Schatten guttun.«
Einige brummten ihre Zustimmung, andere nickten nur. Sie marschierten seit Tagesanbruch und waren dem Stern scheinbar noch kein Stück näher gekommen.
Die Bäume entpuppten sich als hochgewachsene Ulmen. Woher Jeb das Wort kannte, wusste er selbst nicht und es schien auch niemanden zu interessieren. Auf jeden Fall gab es hier Schatten, es war kühler und sie fanden einen kleinen Bach, der sich munter zwischen Bäumen und niedrigem Buschwerk hindurchschlängelte.
Alle bis auf Mary, die noch weit zurückhing, stürmten zum Bach, warfen sich zu Boden und tranken ausgiebig von dem erfrischenden Wasser.
Kathy, Mischa und Tian bespritzten sich gegenseitig, während Jenna und Jeb am Ufer saßen und das Treiben beobachteten. León hatte sich abgesondert. Im Unterholz hatte er einen fast zwei Meter langen Ast abgebrochen, den er jetzt mit seinem Messer bearbeitete.
»Was wird das?«, fragte Jeb.
León sah nicht mal auf. »Ein Wanderstab und ein Speer.«
Jeb starrte ihn an. Während ein Teil der Gruppe ausgelassen herumtobte und der Rest versuchte, sich zu erholen, war León schon wieder einen Schritt weiter und schnitzte sich eine Waffe.
Vor diesem Jungen musste man einfach Respekt haben.
Er ließ seinen Blick umherschweifen. Mary hatte es endlich auch geschafft. Mit hängendem Kopf und erschöpftem Blick stand sie neben León, der vor ihr auf dem Boden hockte. Sie zog ihren Rucksack herunter, öffnete ihn und nahm die leere Flasche heraus. Mit einer hilflosen Geste hielt sie ihm die Flasche hin. Ohne aufzusehen, fragte er: »Was soll das?«
»Holst du mir Wasser?«, sagte sie leise.
Nun hob er doch den Kopf an. Kurz sah er ihr in die Augen, dann nahm er ihr die Flasche aus der Hand und warf sie in hohem Bogen in Richtung Bach.
»Hol’s dir doch selber«, knurrte er und wandte sich wieder seinem Speer zu.
Jeb sah, wie Mary völlig entkräftet zu weinen begann. Er wollte aufspringen, zu ihr gehen, ihr Wasser holen oder sie zumindest trösten, aber eine Hand legte sich auf seinen Arm.
Jenna.
»Lass sie«, sagte Jenna ruhig. »Sie muss begreifen, dass sie es allein schaffen kann. Sie ist es offenbar gewohnt, dass Leute ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen. Aber sie ist zäher, als sie aussieht.«
»Woher willst du das wissen?«
Jenna nickte in Richtung Mary. »Ich weiß es einfach. Schau!«
Tatsächlich, Marys hilfloses Gesicht hatte einen entschlossenen Zug angenommen. Sie drängte die Tränen zurück. Sie sagte etwas zu León, der zu grinsen begann. Dann schritt sie an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Kurz darauf beobachteten sie, wie Mary ihre Flasche aufhob und zum Bach ging.
Jenna hatte in Bezug auf Mary recht gehabt. Mary saß wenig später bei den anderen und wirkte erholt. Ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen und sie plauderte mit Tian und Mischa. León schnitzte noch immer an seinem Speer, während Kathy im Schatten eines Baumes döste.
Jeb sah zum Himmel. Am Stand der Sonne konnte er ablesen, dass es früher Nachmittag sein musste. Sie könnten noch viele Stunden bei Tageslicht weitermarschieren, aber das nächste Nachtlager bereitete ihm Sorgen. Auf der weiten Grasebene zu schlafen, hielt er für keine gute Idee. Niemals konnten sie hier am Bach so viel Holz sammeln und mitschleppen, dass ein Feuer die ganze Nacht brennen würde.
Jeb schützte seine Augen mit der flachen Hand gegen die Sonne und blickte in die Richtung, in die sie weiterziehen mussten. Ein dunkler Fleck zeichnete sich am Horizont ab. Dahinter musste es einen weiteren Wald geben. Jeb versuchte, einen Blick auf den Stern zu erhaschen. Er lief zum Saum der kleinen Baumgruppe. Da, da war er. Der Stern stand hell und klar über einer weiteren Bergkette, die sich in weiter Ferne aus der Ebene erhob. Der dunkle Baumgürtel, den er soeben entdeckt hatte, verlief in einiger Entfernung fast parallel zu ihrem Weg über die Ebene. Wenn sie sich beeilten, konnten sie den Wald vielleicht in der Dämmerung erreichen und am nächsten Tag ihren Marsch durch die Ebene fortsetzen.
Was für eine seltsame Landschaft: Nichts als Gras und Wald und Berge. Wie weit ist der Wald wohl entfernt?
Zwar würde es kein Problem sein, den Wald zu erreichen, aber sie würden viel Zeit verlieren, denn am nächsten Tag mussten sie denselben Weg wieder zurückgehen. Oder den mühsamen Weg durch den Wald nehmen. Insgesamt ein großer Zeitaufwand, von der damit verbundenen Kraft ganz zu schweigen. Die Ersten würden schon erschöpft sein, bevor sie den Bach am nächsten Tag erneut erreichten. Und selbst dann wäre der Stern noch einen guten Tagesmarsch entfernt. Wenn die Botschaft mit ihrem Ultimatum von zweiundsiebzig Stunden recht hatte.
Jeb blickte zum Stern hinauf. Weit entfernt funkelte er ihm zu, als höhnte er: Du erreichst mich nicht.
Doch, das werde ich.
Neben ihm tauchte Mischa auf. Bisher hatte Jeb kaum eine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu reden, daher betrachtete er ihn neugierig. Mischa war fast so groß wie er selbst, vielleicht einen halben Kopf kleiner. Sein kurzes Haar erinnerte an ein goldgelbes Weizenfeld. Sein Gesicht hatte klare Züge, eine gerade Nase und schmale Lippen. Das Auffälligste an ihm aber waren seine strahlend blauen Augen. Intensiv und klar blickten sie ihn an.
Neben Mischa sehen wir anderen wie grobe Klötze aus, dachte Jeb. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich eines der Mädchen für ihn interessierte. Mischa versprühte Charme, selbst hier in der Hitze der Ebene konnte man sich ihm kaum entziehen.
Ob Jenna sich…
Er verbot sich den Gedanken sofort. Er rief sich ins Gedächtnis, dass sie alle ums Überleben kämpften. Wenn man der Botschaft glauben konnte, würden die meisten von ihnen sogar mit Sicherheit sterben. Weil ihr verloren seid.
»Worüber denkst du nach?«, fragte Mischa ihn.
Jeb sah, dass eine winzige weiße Narbe Mischas rechte Augenbraue teilte. Mischa war doch nicht so perfekt, wie er auf den ersten Blick wirkte.
»Ich überlege, ob wir hier unser Nachtlager aufschlagen sollen. Wir sind lange marschiert und die meisten von uns sind erschöpft. Außerdem gibt es nur wenige Alternativen: entweder eine Nacht im Freien verbringen oder bis zum Wald dort hinten weitermarschieren.«
»Zu dem Wald dahinten? Zu weit weg. Ich denke nicht, dass Tian und Mary es dorthin schaffen.«
Jeb spürte, dass er schon die ganze Zeit angestrengt die Stirn runzelte. Vielleicht war es eine Angewohnheit aus seinem früheren Leben. Wie war das, mein früheres Leben?
»Was ist mit Tian?«
»Hat sich eine Blase gelaufen. Ziemlich großes blutiges Ding an der Ferse. Sie muss aufgestochen werden, sonst platzt sie und dann holt er sich womöglich eine Infektion, mit der er niemals weiterlaufen könnte.«
Infektion? Wieder so ein Wort, dessen Bedeutung er sofort kannte, aber das sich zuvor nicht in seinem Gedächtnis befunden hatte.
»Woher weißt du das alles?«
Mischa grinste. »Ehrliche Antwort? Ich hab keinen blassen Schimmer.«
»Okay, dann bleiben wir hier und kümmern uns um Tians Fuß, außerdem hat wahrscheinlich sowieso niemand Lust, heute noch weiterzugehen. Hier ist ein guter Platz und wir können ein Feuer machen.«
»Ich werde einen Dorn besorgen und Tians Blase aufstechen. Wenn mir Mary etwas von ihrem Verbandsmaterial gibt, kann ich seinen Fuß verbinden, sodass er sich nicht entzündet.«
Jeb begriff, dass auch Mischa verstanden