Rainer Wekwerth

Das Labyrinth erwacht


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sich Mischa ein. »Außerdem haben wir vielleicht Glück und die Sonne scheint, dann dürften sie uns in Ruhe lassen.«

      »Also?«, fragte Jeb in die Runde. »Wer meint, wir sollten es so machen?«

      Alle hoben die Hände. Bis auf León. Er stand gelassen da und blickte Jeb an.

      »Was ist mit dir?«

      León zuckte die Schultern. »Vorerst gehe ich mit euch mit. Ich will den Stern sehen. Sollte er tatsächlich da sein, werde ich mich entscheiden, ob ich bei euch bleibe oder meinen Weg allein fortsetze.«

      »In der Gruppe ist es sicherer«, versuchte Jeb, ihn zu überzeugen, aber Tian ahnte, dass es nichts bringen würde. León ließ sich nicht beeinflussen.

      »Du magst das so sehen. Ich denke anders darüber.«

      »Und wie?«

      »In einer Gruppe ist jeder Einzelne nur so schnell wie das langsamste Mitglied.« Er blickte vielsagend zu Mary hinüber, die das nicht einmal wahrnahm. »Allein bin ich flexibler. Muss auf niemanden Rücksicht nehmen und kann blitzschnell entscheiden, ohne mich mit anderen absprechen zu müssen. Und wenn ihr alle ehrlich zu euch wärt, dann wüsstest ihr, dass es genauso ist und nicht anders.«

      Arschloch, dachte Tian. Was ist mit Freundschaft, Kameradschaft, dem Gefühl, nicht allein zu sein, sich gegenseitig zu unterstützen?

      »Okay«, sagte Jeb. »Ich akzeptiere das. Gib uns Bescheid, wenn du dich entschieden hast.«

      »Geht klar.«

      Leóns Worte hatten die Gruppe nachdenklich gemacht. Fast alle sahen betreten zu Boden. Dachten etwa auch noch andere darüber nach, Einzelkämpfer zu sein? Es wurde Zeit, dass jemand die betretene Stille zerschlug.

      »Also Leute«, sagte Tian laut. »Wer will meinen Rucksack tragen? Nicht drängeln, bitte nicht drängeln. Bei mehr als einem Bewerber entscheidet das Los.«

      Zögerlich lachten die anderen, selbst León. Man merkte, wie sich die angespannte Stimmung wieder löste. Er wollte hier raus und endlich aufbrechen. Zufrieden warf sich Tian den Rucksack über die Schulter. Dann ging er zu Jeb hinüber und klopfte ihm auf den Rücken. Ohne dass die anderen ihn hören konnten, flüsterte er leise: »Lass uns aufbrechen. Im Augenblick ist die Stimmung gut, wer weiß, was in fünf Minuten ist.«

      Tian ging an Jeb vorbei und betrat den Trampelpfad, auf dem sie am gestrigen Tag in den Wald gegangen waren. Er drehte sich nach den anderen um. Jeb lächelte ihn dankbar an.

      »Boys and girls, hier geht’s lang.«

      12.

      Die Sonne brannte bereits heiß vom wolkenlosen Himmel herab, als sie die Ebene erreichten. Durch die Helligkeit mussten sie sich keine Gedanken darum machen, was dort auf der Jagd war.

      Jenna hob den Kopf, blinzelte in die Sonne und fragte sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, durch den Wald zu marschieren. Die Hitze hier draußen war schon jetzt am Morgen nahezu unerträglich. Ein heißer Wind strich über die endlose Graslandschaft und trocknete die letzten feuchten Stellen aus, die der Regen hinterlassen hatte.

      Zum Glück hatten sie im Wald einige tiefere Pfützen entdeckt, mit deren braunem Wasser sie notgedrungen ihre Flaschen aufgefüllt hatten. Auch die großen Blätter der Farne hatten neue Wasservorräte für sie bereitgehalten. Doch Jenna wusste, dass dieses Wasser wohl kaum für den ganzen Tag reichen würde.

      León war bei ihrer Gruppe geblieben. Nachdem sie gemeinsam den Wald verlassen hatten, sahen auch die anderen ihn zum ersten Mal: Deutlich sichtbar, rechts von der Sonne stand ein Stern am Himmel und funkelte gegen das strahlende Blau an. Während sie Stunde um Stunde auf ihn zumarschierten, änderte er seine Position nicht, sondern hing wie festgenagelt am Firmament.

      Vor ihr ging Jeb, hinter ihr folgte der Rest der Gruppe, nur Mary war etwas zurückgefallen und trottete ihnen allein hinterher.

      Zweimal hatten sie bereits Rast gemacht, einen Teil ihrer Vorräte gegessen und fast ihr ganzes Wasser verbraucht. Nun lief ihnen der Schweiß über das Gesicht. Der Schatten und Wasser spendende Wald lag längst weit hinter ihnen und war bereits nicht mehr auszumachen. Um sie herum war nichts als weite öde Steppe.

      Während sie stumm marschierten, dachte Jenna darüber nach, was sie in der Nacht zuvor gesehen hatte. Oder was sie glaubte, gesehen zu haben, denn ganz sicher war sie sich nicht.

      Jeb hatte Kathy geküsst. Lang und innig. So hatte es ausgesehen, als sie nach oben ins Geäst geblickt hatte. Oder war das eine Täuschung gewesen? Waren sie nur dicht beieinandergestanden und hatten leise miteinander gesprochen, um die anderen nicht zu wecken?

      Jenna wollte das Bild verdrängen, aber es gelang ihr nicht. Mal sah sie, wie Jeb Kathy küsste, dann wiederum wirkte die Szene ganz harmlos.

      Es hatte wehgetan, die beiden zu beobachten. Jenna glaubte zu spüren, dass Jeb sie mochte, dass da eine Verbindung zwischen ihnen war. Aber woher sollte diese Verbindung kommen, sie kannte Jeb doch kaum. Kathy hingegen traute sie nicht über den Weg. Sie war eingebildet, herrisch und arrogant. Kathy wollte Jeb nur benutzen, zumindest vermutete Jenna das. Die Rothaarige umgarnte ihn, weil sie sich einen Vorteil davon erhoffte, aber wenn es um ihr eigenes Überleben ginge, würde sie ihn bedenkenlos opfern.

      Trotzdem. Sie hatten sich geküsst.

      Sie konnte es sich noch hundertmal einreden, dass ihr das nichts bedeuten sollte.

      Und dennoch versetzte ihr der Gedanke einen Stich, den sie sich nicht erklären konnte.

      Mischa hatte sich zu Tian gesellt. Der Asiate schien im Gegensatz zu ihm hitzeresistent zu sein. Tians Gesicht war trocken und wirkte geradezu entspannt.

      »Du scheinst dir keine Sorgen zu machen«, sprach Mischa ihn an und passte sein Tempo an.

      »Ehrlich gesagt, weiß ich immer noch nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll.«

      »Dann glaubst du nicht an die Geschichte mit den sechs Welten und den Toren? Und dass in jeder Welt einer von uns zurückbleiben muss?«

      »Na ja, irgendwie schon, aber im Augenblick ist alles noch weit weg. So weit, dass es unreal wirkt. Es dauert ja noch zweiundsiebzig Stunden, bevor es richtig brenzlig wird.«

      Mischa sah ihn verblüfft an. »Weniger, ein paar Stunden sind ja bereits um. Aber meinst du nicht, man sollte auf alles vorbereitet sein?«

      Tian blinzelte ihm zu. »Wer sagt, dass ich das nicht bin?«

      »Aber wie kannst du auf so was wie das hier vorbereitet sein? Echt, aus dir werde ich einfach nicht schlau: Auf der einen Seite wirkst du wie ein Träumer, andererseits habe ich das Gefühl, du hast schon eine Menge erlebt.«

      »An das ich mich nicht erinnern kann.«

      Mischa lachte. »Richtig.«

      Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann sagte Tian: »Kannst du dich an irgendetwas erinnern?«

      Mischa zögerte. »Ja und nein. Da spuken Bilder in meinem Kopf herum.«

      »Was für Bilder?«

      »Autos, schwarze Limousinen, ein greller Blitz, Staub und Nebel, Chaos. Dann nichts mehr.« Wieder ein Zögern. »Manchmal glaube ich, ein Gesicht zu erkennen, das sich über mich beugt und mir etwas Unverständliches zuflüstert. Es ist ein Mann, zumindest denke ich, dass es ein Mann ist, aber ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Er sagt immer wieder dieselben Worte, aber ich kann sie nicht hören, irgendetwas ist mit meinen Ohren passiert.«

      »Aber jetzt kannst du hören«, sagt Tian. »Also war es wahrscheinlich nur ein Traum.«

      »Hoffentlich. Dabei ist alles so real und doch verschwommen.« Er seufzte laut auf. »Und woran erinnerst du dich?«

      »Da ist eigentlich nichts, nur Nebel. Und dann einzelne Bilder.«

      Mischa bedeutete ihm weiterzusprechen.

      »Es klingt bestimmt total bescheuert, aber ich sehe