Rainer Wekwerth

Das Labyrinth erwacht


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Ahnung. Ich sehe immer nur Ruinen. Ein mächtiges Tor mit Reitern auf dem Dach. Eine hohe Säule, auf der ein goldener Engel steht. Alte Gebäude neben modernen Hochhäusern aus Glas. Verlassene Schächte im Untergrund und immer wieder Schilder, auf denen Orte und Namen stehen. Aber ich kann sie nicht lesen. Es herrscht immerwährender Schneefall, ewiger Winter. Graue Mauern, zerstört, alles ist verbrannt oder zu Schutt geworden. Der Himmel ist bleigrau. Ebenso grau sind die Flocken, die zur Erde herabfallen und alles bedecken. Es ist kalt. Ich friere, aber ich weiß, dass ich nicht stehen bleiben darf. Überall lauert der Feind. Er jagt mich. Unablässig. Ich habe nur eine Chance, ich muss den goldenen Engel erreichen, der in den Himmel ragt. Dort finde ich Frieden, dort gibt es Erlösung.«

      »Das sind ziemlich konkrete Eindrücke.« Mischa blickte ihn an. »Glaubst du, es ist deine Heimat?«

      Tian schüttelte energisch den Kopf. »Nein, aber ich war wohl dort, viele Male, und doch fühlt sich alles nicht real an.«

      »Vielleicht ist es nur ein immer wiederkehrender Traum.«

      »Nein, irgendwie ist es mehr als nur ein Traum. Ich glaube, in diesen Bildern ist die Lösung des Rätsels verborgen.«

      »Welches Rätsel?«

      »Warum wir hier sind und was das alles zu bedeuten hat.«

      León hatte auf Mary gewartet. Aus den Augenwinkeln beobachtete er sie. Sie war zweifelsohne hübsch. Zwar wirkte ihr Gesicht unendlich zart und zerbrechlich, aber der volle rote Mund mit den sinnlichen Lippen sprach da eine ganz andere Sprache. Er sprach von einer Leidenschaft, die Mary bisher erfolgreich verborgen hatte. León fragte sich, warum sie so wenig Ausdauer aufbrachte. Warum sie kraftlos hinter den anderen hertrottete. Ohne zu klagen, ohne zu fragen.

      Was ist los mit dir?

      León stellte sich diese Frage nicht aus Mitleid oder Neugierde. Es war einfach so, dass Mary die Gruppe aufhielt. Er fühlte sich von ihrer Lethargie geradezu provoziert. Jeder, wirklich jeder schien noch Reserven zu haben. Mary hingegen taumelte nur noch durch die karge Landschaft.

      Dabei schien sie keine Angst zu verspüren. Und es war genau dieser Umstand, der ihn so wütend machte. Hier ging es ums nackte Überleben, aber Mary tappte neben ihm her, ohne den Kopf zu heben. Es fehlte nur noch, dass sie vor sich hin summte.

      León hielt es nicht mehr aus.

      »Warum strengst du dich nicht an?«, platzte es aus ihm heraus.

      Mary blieb stehen und sah ihn ernst an.

      »Was meinst du?« Ihre Stimme war kaum lauter als das Rauschen des Windes im hohen Gras. León verfluchte sich augenblicklich dafür, dass er sie angesprochen hatte.

      »Falls du es noch nicht begriffen hast: Wir müssen so schnell wie möglich diese Tore erreichen oder wir werden sterben. Und selbst wenn wir die Tore erreichen, heißt das noch lange nicht, dass alle von uns überleben. Nur die Schnellsten werden es schaffen. Wer zuletzt kommt, hat Pech gehabt, die Arschkarte gezogen. Und du spazierst durch die Gegend, als hättest du alle Zeit der Welt.«

      Sie sah ihn an. Aus diesen sanftmütigen braunen Augen. Wie dunkle Teiche, in denen man versinken konnte. León fluchte innerlich.

      »Ich denke, es spielt keine Rolle, ob wir schnell oder langsam gehen, die Frage ist doch zunächst mal, ob wir die Tore erreichen. Und selbst wenn, werden wir trotzdem alle sterben.«

      León schaute sie verdutzt an.

      »Wer ein Rennen zu schnell beginnt, wird bald außer Atem sein. Dass hier ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf.«

      Dieses Mädchen war unfassbar. »Und du glaubst, ausgerechnet du hast die Kraft, das durchzustehen?«

      Mary zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nicht, aber jemand wird mir helfen.«

      León war nun vollkommen fassungslos. »Das glaubst du wirklich?«

      Mary sah ihn ernst an. »Ja, das glaube ich. So war es schon immer. Ich kann mich zwar nur an meinen Namen erinnern, aber ich weiß einfach, dass es so ist. So sein muss.«

      »Du spinnst.«

      »Vielleicht bist ja du derjenige, der mir hilft.«

      León hatte Mühe, nicht die Fassung zu verlieren. Er starrte Mary kalt an. »Vergiss es.«

      Kathy ging stur hinter Jenna her, vor ihnen lief Jeb, der immer wieder nach dem Stern blickte. Aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur zogen sie über die Ebene. Kathy starrte auf Jennas Rücken und ihre Abneigung gegen dieses Mädchen wurde immer größer. Nicht dass sie sagen konnte, warum das so war, aber sie fühlte einfach Zorn in sich, wenn sie Jenna ansah. Wie sie mit gleichmäßigen Schritten, scheinbar ohne zu ermüden, Jeb folgte.

      Kathy hatte das Gefühl, Mädchen wie Jenna zu kennen. Mädchen, die sich für was Besseres hielten. Mädchen, die die netten Jungs abbekamen, während für sie nur die Arschlöcher oder irgendwelche Trottel übrig blieben.

      So einen Scheiß weiß ich noch.

      Insgeheim bewunderte sie Jenna ein wenig für ihre Stärke. Und gleichzeitig blitzte Neid in ihr auf. Jenna war attraktiv, ohne Zweifel, aber das war sie selbst auch. Allerdings strahlte Jenna eine Gelassenheit aus, die sie in sich selbst nicht spürte. In regelmäßigen Abständen drehte sich Jeb nach der Gruppe um. Kathy konnte sehen, dass er jedes Mal Jenna anlächelte. Bestimmt grinste Jenna dämlich zurück.

      Jeb.

      Der Gedanke an Jeb jagte Kathy eine heiße Flamme durch ihren Körper. Es war kein Feuer der Leidenschaft, schon gar nicht Liebe oder so was. Mehr ein Verlangen, die Lust, ihn zu erobern – aber dazu musste sie ihn von Jenna ablenken.

      Diese blonde Kuh mit ihren großen Augen macht ihn noch ganz verrückt, wenn ich nicht aufpasse.

      Kathy biss sich auf die Unterlippe und erhöhte ihr Schritttempo, um sich zwischen Jenna und Jeb zu schieben. Während sie durch die Hitze marschierte, ihre Augen wegen der flirrenden Hitze gesenkt hielt, kamen ihr bekannte Bilder in den Sinn. Zunächst konnte sie nichts davon einordnen, aber dann spielte sich eine klare Szene vor ihren Augen ab. Sie sah sich selbst nackt vor einem Spiegel stehen. Sie hatte die Haare angehoben und bewunderte ihr makelloses Aussehen. Plötzlich schoben sich zwei Hände von hinten über ihre Brüste. Ein junger Mann, kaum mehr als ein Schatten im Spiegel, beugte sich herab und küsste ihren Nacken.

      »Du bist so schön.« Seine Stimme war heiser vor Erregung.

      Sie formte mit ihren Lippen einen perfekten Kussmund und lächelte dann gespielt unschuldig.

      »Findest du?«

      »Du bist eine Göttin.«

      »Du weißt, dass meine Schwester nichts von dieser Sache erfahren darf.«

      »Ja, unsere Hochzeit könnte ich dann vergessen. Sie würde mir niemals verzeihen.«

      »Wohl kaum. All das hat natürlich seinen Preis, das weißt du?«

      »Du bekommst von mir, was du willst.« Seine Stimme wurde brüchig. »Und jetzt komm zurück ins Bett.«

      Kathy lächelte ihr Spiegelbild an. Sie hatte gewonnen.

      Wieder einmal.

      Die Erinnerung war so greifbar, dass trotz der Hitze ein leichtes Zittern über ihren Körper lief. Sie fühlte sich gut.

      Du warst ein böses Mädchen, dachte sie. Und es ist an der Zeit, noch viel böser zu werden.

      Es musste inzwischen mindestens Mittag sein. Sie waren ohne Unterbrechung unterwegs, die Sonne brannte ihnen unbarmherzig auf die Köpfe. Das Wasser war lange verbraucht, ihre Kehlen trocken, als Jeb endlich stehen blieb. Er wartete, bis die anderen zu ihnen aufgeschlossen hatten, dann deutete er nach links auf eine kleine Baumgruppe in der Ferne.

      »Ich glaube, dort gibt es Wasser«, sagte er.

      »Das liegt nicht in unserer Richtung«, meinte Mischa.

      »Wir müssen unsere Flaschen auffüllen.