Rainer Wekwerth

Das Labyrinth erwacht


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      »Wir müssen es wenigstens versuchen«, sagte Jeb gepresst.

      León ließ sich nicht beeindrucken. »Sie sind zu weit weg. Egal, ob die Verfolger sie einholen oder sie entkommen, bis wir dort sind, ist alles längst entschieden.«

      »Aber…«

      Jenna trat vor Jeb. Sie legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah ihm in die Augen.

      »León hat recht, wir können nichts tun. Wir können ihnen nicht helfen. Wir müssen weitergehen. Wer auch immer da von wem auch immer gejagt wird, vielleicht hat er Glück.«

      Jeb blickte zu León hinüber. Der tätowierte Junge wirkte ruhig, fast unbeteiligt. León erwiderte ungerührt seinen Blick. Ein Frösteln lief über Jebs Körper.

      In diesem Moment wurde Jeb klar, dass León dem Tod schon öfter begegnet war. Und all diese furchtbaren Bilder und Muster auf Gesicht und Körper erzählten davon.

      Während León ihn abwartend musterte, versuchte Jeb, sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen. Er spürte, wie sein linkes Auge zu zucken begann, und sah an Leóns verächtlichem Lächeln, dass er es ebenfalls bemerkt hatte.

      6.

      León sah sie als Erster. Er gab Jeb und Jenna ein Zeichen mit der Hand und sie ließen sich zu Boden sinken.

      »Was ist?«, fragte Jeb.

      »Schschschscht!« León legte einen Finger auf die Lippen. »Da kommt jemand auf uns zu«, flüsterte er.

      »Jemand? Ich höre kein Kreischen. Sind es Menschen?«

      »Kann ich nicht richtig erkennen. Es sind mehrere, sie reden miteinander. Ich verstehe kein Wort, aber sie klingen menschlich.«

      Als Jeb den Kopf heben wollte, machte León einen ärgerlichen zischenden Laut.

      »Wir wissen nicht, ob das diejenigen sind, die wir suchen. Lass sie näher herankommen, damit wir sehen, ob sie uns gefährlich sind.«

      Es drängte Jeb danach, aufzuspringen und die anderen zu begrüßen, aber León hatte recht, es konnten auch Feinde sein. Bisher hatten sie ja schließlich diese Gestalten, die Jagd auf sie machten, noch nicht gesehen. Wer wusste schon, wie sie aussahen? Er wandte den Kopf zu Jenna. Sie wirkte wachsam, aber nicht ängstlich. Zu seiner Überraschung streckte sie einen Arm nach ihm aus und drückte seine Hand. Er erwiderte sanft den Druck. Dieses goldene Lächeln, es schien ihm so… und dann spürte er Wärme in sich, wurde zuversichtlich, als könne ihm nichts geschehen, solange es dieses Lächeln gab.

      Dann wandte er sich an León.

      »Und jetzt? Kannst du sie sehen?«

      »Ja«, zischte der tätowierte Junge. »Sie sind zu dritt. Hattest du nicht gesagt, es sind vier? Zwei Mädchen und ein Junge. Ehrlich gesagt, sehen sie genauso verloren aus wie wir und außerdem tragen sie ähnliche Kleidung und Rucksäcke.«

      »Dann lass uns aufstehen.«

      Sie tauchten nur knapp zehn Meter von den anderen entfernt aus dem Gras auf. Die drei anderen wichen erschrocken zurück.

      Jeb hob die Hand. »Keine Sorge, wir wollen euch nichts tun.«

      Doch die Worte verfehlten ihre Wirkung, ganz im Gegenteil, die Fremden machten noch einige Schritte mehr rückwärts.

      »Alles okay, Leute«, sagte Jenna mit sanfter Stimme.

      »Wer seid ihr?«, wagte der asiatisch aussehende Junge aus der anderen Gruppe zu fragen. »Und wieso ist einer von euch so schrecklich bemalt?« Seine Hand deutete auf León.

      Jeb warf einen Blick zu ihm hinüber. Leóns breites Grinsen ließ ihn gefährlicher aussehen, als er ohnehin schon wirkte.

      »Das ist León. Er trägt Tätowierungen. Mein Name ist Jeb. Neben mir steht Jenna. Vermutlich wisst ihr ebenso wenig wie wir, was das alles zu bedeuten hat. Ich werde euch davon erzählen, aber wir müssen weiter, denn wir sind in Gefahr. Wir werden verfolgt.«

      »Von wem?«, fragte das rothaarige Mädchen.

      Jeb betrachtete sie eingehend. Sie war ohne Zweifel hübsch, ihre Lippen hatte sie zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Irgendwie wirkte sie wie jemand, der permanent wütend und zornig ist.

      »Ich verspreche euch, dass ich alles erkläre, sobald wir einigermaßen Schutz gefunden haben. Es ist hier nicht sicherfür uns, glaubt mir.«

      »Was ist mit dem Vierten?«, warf León ein. »Du hast gesagt, da wären noch vier außer uns.«

      »Ja, keine Ahnung, was passiert ist.« Jeb wandte sich an den Jungen aus der anderen Gruppe. »Habt ihr unterwegs jemanden gesehen?«

      Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich heiße übrigens Tian. Das hier sind Mary und…«

      »Danke, ich kann allein reden.« Kathy trat einen Schritt auf Jeb und die anderen zu und warf ihre Haare über die Schulter. »Ich bin Kathy. Warum glaubt ihr, es gibt noch jemanden außer uns?«, fragte Kathy misstrauisch.

      Plötzlich redeten alle wild durcheinander.

      »Das sage ich euch später.«

      »Wo kommt ihr denn her?«

      »Wer verfolgt uns, sag schon!«

      »Woher kommen die Rucksäcke?«

      »ICH WILL ES JETZT WISSEN.« Kathy brachte die aufgeregte Gruppe zum Schweigen.

      Jeb sah sie an. Das Mädchen erwiderte ungerührt seinen Blick, funkelte ihn aus grünen Augen an. Jeb ahnte, dass sie Schwierigkeiten machen würde.

      »Wir müssen weiter. Sofort«, sagte er gleichgültig. »Kommt ihr mit?«

      »Wo geht ihr hin?«, fragte Tian, der erleichtert wirkte, die Führung seiner Gruppe abzugeben.

      »Zum Wald. Dort können wir zum Schutz ein Feuer machen.«

      Er blickte zu León hinüber, um zu sehen, ob er etwas einzuwenden hatte, aber der tätowierte Junge starrte schweigend über die Grasebene.

      »Okay, wenn die anderen einverstanden sind.« Tian blickte Kathy und Mary an, die ergeben nickten.

      Der Wind war stärker geworden. Die Haare der Mädchen wurden von den kräftigen Böen durcheinandergewirbelt. Jeb marschierte als Erster voran, ließ sich aber bald an den Schluss der Gruppe zurückfallen. Er brauchte ein wenig Zeit, um alle nacheinander zu betrachten.

      Mary wirkte wie jemand, der gerade aus einem langen Traum erwacht war und Probleme damit hatte, sich zurechtzufinden. Jenna glich mit ihren blonden Haaren und dem sanften Lächeln einem Engel. Und Kathy? Sie sah aus, als wollte sie mit ihrer bloßen Willenskraft den Sturm zähmen. Sie schien es gewohnt zu sein, dass alles nach ihrem Willen ging.

      Jeb schüttelte unwillkürlich den Kopf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Und der neue Junge, Tian? Er machte einen freundlichen, gutmütigen Eindruck, hatte aber etwas an sich, dass ihn beunruhigte. Etwas Verstörendes, er konnte es nicht genau sagen. Es war nur so ein Gefühl, dass sich hinter diesem Gesicht Dinge verbargen, die man auf den ersten Blick nicht sehen konnte.

      Und dann war da noch León.

      Der Monsterjunge, wie er ihn im Stillen nannte.

      Sein Aussehen war furchterregend, aber er wirkte entschlossen und zäh. León hatte schnell deutlich gemacht, dass er seine eigenen Interessen über die der Gruppe stellen würde. Wenn es um sein Überleben ging, würde er keine Rücksicht nehmen, er würde dafür buchstäblich über Leichen gehen.

      Was mache ich mit dir? Wir haben nur eine Chance, wenn wir zusammenhalten. Aber du wirst, wenn es drauf ankommt, deinen eigenen Weg gehen – ohne uns.

      Auf dem Zettel hatte noch mehr gestanden, als er Jenna verraten hatte. Bald würde er diese Informationen mit den anderen teilen müssen. Dann würde sich vieles entscheiden.

      Wie werden sie reagieren, wenn sie erfahren,