nicht einmal Hoffnung enthalten, obwohl es als Signal wirkt, Erleichterung herbeizurufen. […] Der Mangel an vorausgegangener Erfahrung lässt die Zeit für ein Baby im Zustand unerfüllten Sehnens unerträglich lang erscheinen.“122 Liedloff weiter: „Zu diesem frühen Zeitpunkt ist das Erforderliche genau festgelegt. Wie wir gesehen haben, kann er [der Säugling], wenn er sich jetzt nicht wohl fühlt, nicht hoffen, dass er sich später wohl fühlen wird. Er kann nicht fühlen, dass ‚Mutter gleich wieder da sein wird’, wenn sie ihn verlässt; die Welt ist plötzlich falsch geworden, die Umstände sind unerträglich.“123
Ein Säugling hat keinerlei Möglichkeiten, die Situation auszuhalten, ihr auszuweichen oder sie zu verändern, denn er ist fast vollständig auf andere angewiesen – auch was sein Fühlen betrifft. Solche Erlebnisse prägen den heranwachsenden Menschen meist für das gesamte Leben. Er hatte ein Gefühl des vollständigen Alleinseins und empfand sich vollständig dem Schicksal ausgeliefert – für eine gefühlt endlos lange Zeit hat er dies ertragen müssen, und dies hat ihn geprägt. Er hat zwischen den kurzen Momenten, die ihn seine Mutter auf dem Arm hielt, beständig in der Erwartung gelebt, dass ihn zu einem beliebigen Zeitpunkt das nächste Raubtier verspeisen wird – so wie es einem steinzeitlichen Baby in dieser Situation widerfahren wäre: „Das Ausmaß, in dem die beiden Erwartungsfolgen sich unterscheiden, bestimmt die Entfernung, die ihn später von seinem angeborenen Potential, sich wohlzufühlen, trennt.“124 Diese frühen Erfahrungen bestimmen die Gefühle des Menschen meist ein Leben lang: „Stimmen seine späteren Erfahrungen ihrem Wesen nach nicht mit denen überein, die ihn geprägt haben, neigt es dazu, sie auf Biegen und Brechen dahingehend zu beeinflussen, dass sie dieses Wesen annehmen. Ist es an Alleinsein gewöhnt, wird es unbewußt sein Leben so einrichten, dass ihm ein ähnliches Maß von Alleinsein beschert wird. Möglichen Versuchen seinerseits bzw. durch die äußeren Umstände, es weitaus einsamer bzw. weit weniger einsam zu machen, als es gewohnt ist, wird sein Bestreben nach Stabilität Widerstand leisten.“125
Schwarze Pädagogik
Bis über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinaus erfuhr die Mehrheit der Babys das in den vorigen Absätzen Beschriebene. Sie wurden die längste Zeit des Tages in ihren Bettchen allein gelassen und hatten nur selten Körperkontakt mit der Mutter. Es war lange Zeit ein erklärtes Ziel der „Schwarzen Pädagogik“, das Kind nicht durch Zärtlichkeit „zu verwöhnen“, es dadurch gefügig zu machen und zur Selbständigkeit zu erziehen: „Weinen muß ignoriert werden, um dem Baby zu zeigen, wer der Herr ist; und eine Grundvoraussetzung der Beziehung ist, dass jede Anstrengung unternommen werden muß, um das Baby zur Anpassung an die Wünsche der Mutter zu zwingen.“126 Diese für die Babys fürchterlichen Thesen wurden u. a. Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Moritz Schreber und später in der NS-Zeit und bis in die Sechziger Jahre von Johanna Haarer verbreitet. Beide gingen davon aus, dass ein neugeborener Mensch geformt werden müsse.127 Der einflussreiche Naturwissenschaftler Thomas Henry Huxley128 vertrat im neunzehnten Jahrhundert diese Ansicht.129 Für Freud war der Mensch von Natur aus grundsätzlich asozial.130 Diese Ideen sind aber deutlich älter. Schon "Luther nimmt an, daß der Mensch von Natur aus verderbt ist und daß dies seinen Willen zum Bösen hinlenke, so daß es ihm unmöglich ist, eine gute Tat allein aufgrund seiner Natur zu vollbringen."131
„Die früher sehr verbreiteten Vorstellungen von der ‚bösen Kindsnatur’ oder der notwendigen ‚Abrichtung’ zeugen von Aberglauben und dem Wunsch, Menschen auf ähnliche Weise formen zu können, wie man es damals als Dressur mit Tieren praktizierte. […] ’Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, dass man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen nehmen, so erinnern sie sich hiernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben.’ – Johann Georg Sulzer: Versuch von der ‚Erziehung’ und Unterweisung der Kinder, 1748“132
Jean Liedloff beschreibt die dramatischen Umstände, unter denen ein Neugeborenes bis über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinaus seine ersten Stunden, Tage oder Monate verbrachte: „In diesem Stadium wäre eine Wölfin, die sich dem Wolfskontinuum gemäß verhält, einem menschlichen Baby eine bessere Mutter als seine biologische Mutter, die einen Meter entfernt im Bett liegt. Die Wolfsmutter wäre greifbar; die menschliche Mutter könnte ebenso gut auf dem Mars liegen. […] In den Entbindungsstationen der westlichen Welt besteht kaum Aussicht, von Wölfinnen getröstet zu werden. Das Neugeborene, dessen Haut nach der uralten Berührung durch einen weichen, wärmeausstrahlenden, lebendigen Körper schreit, wird in ein trockenes, lebloses Tuch gewickelt. Es wird, sosehr es auch schreien mag, in einen Behälter gelegt und dort einer qualvollen Leere ausgeliefert, in der keinerlei Bewegung ist (zum erstenmal in seiner gesamten Körpererfahrung, während der Jahrmillionen seiner Evolution oder seiner Ewigkeit im Uterus). Das einzige Geräusch, das es hören kann, ist das Geschrei anderer Opfer, die die gleiche unaussprechliche Höllenqual leiden. Das Geräusch kann ihm nichts bedeuten. Es schreit und schreit; seine an Luft nicht gewöhnten Lungen werden von der Verzweiflung in seinem Herzen überanstrengt. [Wenn hier ein Reflex greift, also etwas aus dem Kontinuum, dann der, so laut wie möglich zu schreien, um damit die Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen, weil einen die Mutter dann vielleicht wiederfindet.] Keiner kommt. Da es seiner Natur gemäß in die Richtigkeit des Lebens vertraut, tut es das einzige, was es kann: Es schreit immer weiter. Schließlich schläft es erschöpft ein – ein zeitloses Leben lang später.“133 Und: „Beim Aufwachen befindet es sich in der Hölle.“134
Bei dem Schriftsteller Andreas Altmann findet sich eine ähnlich dramatische Beschreibung: „Kein Kind wird je fassen, dass es sich ohne Liebe zurechtfinden muss. Es kommt mit der unbedingten Gewissheit auf die Welt, geliebt zu werden. So wie Luft zum Atmen bereitsteht, so die Liebe. Dachte es, nein, fühlte es. Im Laufe der Jahre wird dem Mensch jedoch bewusst, dass jenes Grundnahrungsmittel nicht vorrätig war. Nicht für ihn. Und natürlich versteht er nicht, wie es dazu kommen konnte: dass die einen geliebt wurden und die anderen nicht.“135
Jean Liedloff beschreibt die damals übliche Behandlung aus der Perspektive des Babys: „Auf einer vorbewußten Ebene, die alle seine weiteren Eindrücke bestimmen wird, […] kennt es das Leben als unaussprechlich einsam, ohne Reaktion auf die von ihm ausgesandten Signale und voller Schmerz. […] Die Stunden, in denen der Säugling wach ist, verbringt er in Sehnsucht, Verlangen und in unablässigem Warten darauf, dass ‚Richtigkeit’ im Sinne des Kontinuums die geräuschlose Leere ersetzen möge.“136 Die Mutter hat ihr Baby in seinem Zimmer in sein Bettchen gelegt: „Durch die Türe hört sie Töne, als würde jemand gefoltert. […] Es ist genauso ernst, wie es sich anhört. […] [Sie ist] sicher, daß ihm in Wirklichkeit nichts fehlt; und sie lässt ihn weinen bis er erschöpft ist. […] Die Schreie des Säuglings gehen in ein zitterndes Wimmern über. Da niemand antwortet, verliert sich die Antriebskraft seiner Signale in der Verwirrung lebloser Leere, wo schon lange Erleichterung hätte eintreten müssen. Er blickt um sich. Jenseits der Stäbe seines Gitterbettchens gibt es eine Wand. Er sieht nur die Gitterstäbe, unbeweglich, und die Wand. Aus einer fremden Welt hört er sinnlose Geräusche. In seiner Nähe ist alles still. Er sieht auf die Wand, bis ihm die Augen zufallen. Wenn sie sich später wieder öffnen, sind die Gitterstäbe und Wand genau wie vorher, doch das Licht darüber ist noch trüber.“137 Diese Ruhe ist das Gegenteil dessen, was ein Baby braucht: „So, wie die Bedingungen sind, unter denen seine Gattung sich entwickelte, wirken nur völlige Stille oder ein längerdauernder Mangel an Veränderung in den Sinnesreizen beunruhigend.“138 Entsprechend besteht „seine wirkliche Erfahrung […] hauptsächlich aus unerfülltem Verlangen.“139
Die Natur hat es so angelegt, dass das Baby dies nach außen nicht zeigt, weil es von seiner Mutter abhängig ist: „Seine Mutter ist überzeugt, die geschätzte Mutter eines glücklichen Babys zu sein, weil es lächelt, wann immer sie zu ihm kommt. Die bittere Qual, aus der die ganze übrige Zeit seines Wachseins besteht, ruft bei ihm keinerlei negative Gefühle ihr gegenüber hervor; vielmehr strebt es dadurch nur umso verzweifelter danach, bei ihr zu sein.“140 Der Überlebenstrieb des Babys muss zwangsweise eine negative Reaktion gegenüber der Mutter verhindern,