Peter Strauß

Ende offen


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weniger gesunde Essen haben wir erst in der Zivilisation erfunden. Ihre ausgeprägte Gier diente ihrer Lebenserhaltung. Dass sie Spielsachen wünschen, ist eine Folge ihrer Neugier und ihres Spieltriebes, die ihr Lernen und damit ihre spätere Selbständigkeit fördern. Und wenn sie es erst bei Papi und später bei Mami probieren, ist das kein perfider Charakterzug, sondern Teil ihres Überlebensprogramms aus der Steinzeit: Versorgt sie ein Elternteil nicht ausreichend, suchen sie nach einer Lösung – nur können sie in der heutigen Welt den echten Bedarf nicht von den zahllosen „Luxus“-Gütern unterscheiden. In einer steinzeitlichen Welt sind solche Verhaltensweisen ausschließlich nützlich.

      Kinder bringen von Natur aus ein Interesse an der Welt mit, sie ahmen ihre Eltern in allen Tätigkeiten nach, sind neugierig und bereit, in einem sozialen Umfeld zu leben. Sie lernen von selbst, ohne dass man sie dazu drängen müsste. Wenn ein Baby auf die Welt kommt, bringt es alle Fähigkeiten mit, um in einer Menschengruppe sozial aufzuwachsen. Es ist nicht nötig, es beständig zu formen und anzuleiten, weil es nicht wisse, was richtig sei. Das einzige, worauf die Natur es nicht vorbereitet hat, sind die Errungenschaften der letzten zehntausend Jahre unserer Zivilisation. Es ist nicht vorbereitet auf Einsamkeit, Massenveranstaltungen, Straßenverkehr, Bahngleise, elektrischen Strom, Süßwarenregale vor Supermarktkassen und unsere gegenüber damals veränderte Gesellschaftsform.

      Wenn Eltern ihr Kind den ganzen Tag Dinge lehren wollen, erreichen sie damit eher das Gegenteil. Wenn Eltern ihrem Kind gelegentlich ungefragt Dinge erklären, wird das Kind sie vielleicht übernehmen. Erfolgt das Lernen hingegen nicht durch „Eintrichtern“ und Zwang, sondern aus freiem Willen, so geschieht es ungleich einfacher, selbstverständlicher und nachhaltiger: „Die Welt durch Assoziieren kennenzulernen heißt, dass es [das Kleinkind] als Ganzes in sich aufnimmt, was es nie zuvor gekannt hat, ohne dass es irgend etwas daran ‚bemerkt’.“166 Ein Kind, dem man nicht die Funktion der Welt „beizubringen“ versucht, wird von sich aus nachahmen und Fragen stellen und nicht mit Ablehnung auf die Eltern reagieren. Es wird den Eltern zeigen, dass es unnötig ist, es etwas zu „lehren“.

      In den letzten Jahrhunderten ging dieses Konzept deshalb nicht auf, weil es voraussetzt, dass ein Kind ungeschädigt ist. Babys, die schreiend allein gelassen wurden, zeigen später weniger Neugier und mehr destruktive Neigungen. Das lieferte in früheren Generationen den Verfechtern der Schwarzen Pädagogik die vermeintliche Rechtfertigung, diese Kinder durch Lehren, „Erziehung“ und Prügel zu formen.

      Jean Liedloff: „Es scheint fast, als hätten wir in dieser gewaltig langen Zeitspanne, die Hunderte von Jahrmillionen umfasst, ehe unsere Vorfahren einen Intellekt entwickelten, der über solch schwierige Dinge wie Sterblichkeit und Sinn nachdenken konnte, tatsächlich auf die einzige glückselige Weise gelebt: vollkommen in der Gegenwart.“ Derselbe Gedanke findet sich auch in anderen Quellen. Das Dasein im Jetzt beispielsweise ist Ziel der buddhistischen Lebensweise: Der Mensch soll sich darum bemühen, jedes Denken an Vergangenheit und Zukunft, was Hadern und Streben bedeutet, abzulegen.

       Die Qual der Wahl

      Liedloff weiter: „Wie jedes andere Tier erfreuten wir uns des großen Segens, unfähig zu sein, uns Sorgen zu machen. Es gab selbst im Stadium der wilden Tiere Unbequemlichkeiten, Hungersnöte, Verletzungen, Ängste und Mangel zu ertragen, jedoch wäre der Sündenfall, ausnahmslos bezeichnet als eine verkehrt getroffene Wahl, unmöglich für Geschöpfe ohne ausreichenden Verstand, überhaupt eine Wahl zu treffen. Erst mit der Ausbildung der Fähigkeit des Wählens wird der Sündenfall möglich. Und erst mit dem Wählen schwindet das vollkommene Glück der Unschuld (die Unfähigkeit, verkehrt zu wählen). Nicht die Tatsache, dass man eine verkehrte Wahl getroffen hat, sondern die Fähigkeit des Wählens überhaupt beseitigt die Unschuld. Es lässt sich unschwer vorstellen, dass sich jene Jahrmillionen der Unschuld tief genug in unsere ältesten Erwartungen eingekerbt haben, um ein Gefühl zu hinterlassen, der mit der Unschuld einhergehende Glückszustand sei irgendwie erreichbar.“167 Ich finde es leicht nachvollziehbar, dass die Qual der Wahl uns Unschuld und Glück geraubt hat. Die zunehmende Erkenntnis hat vor Jahrtausenden zur Entwicklung des Selbst-Bewusstseins und damit auch zur Möglichkeit der Entscheidung geführt. (Darauf gehe ich in Kapitel 4.1 näher ein.) Seit damals bedeutet die Wahlmöglichkeit immerwährende Verantwortung und den unwiederbringlichen Verlust der Unschuld. Regeln sind uns daher so wichtig, da sie uns Orientierung und damit Sicherheit geben und uns zumindest teilweise von der Last des Wählens befreien.168

      Ebenso hat uns die Entwicklung der Sprache von unserem Ursprungszustand entfernt und kann uns ein Gefühl der Unvollständigkeit geben: „Das Kind findet Eingang in eine größere Kulturgemeinschaft, aber mit dem Risiko, die Kraft und Ganzheit des ursprünglichen Erlebens einzubüßen.“169 Der Bruch entsteht durch den Spracherwerb, da die Sprache viele Erfahrungen unzulässig vereinfacht, verzerrt oder schlicht falsch darstellt. Die Sprache schafft eine zweite Wirklichkeitsebene, deren Realitätsbezug vom Sprecher und Hörer hergestellt werden muss, aber nicht immanent ist.

      Damit einhergehend, stellen die Entwicklung des Bewusstseins (der „Sündenfall“) sowie die Veränderung der Denkstrukturen seit der Aufklärung (siehe Kapitel 2.8) zwei große Brüche in unseren Denkmustern dar, auf die uns die Evolution nicht vorbereiten konnte. Ich halte es für mehr als wahrscheinlich, dass manche Gefühle von Leere, Unzureichend-Sein und Sehnsucht durch diese Entwurzelung und die Entfernung vom Kontinuum zustande kommen, da unsere Gehirne zum ersten Mal eine solche Tätigkeit verrichten und dies eine grundlegende Umstrukturierung der Denkprozesse darstellt.170 Das bringt uns in unserer Entwicklung weiter, und gleichzeitig quält es uns mit Ungewohntem – wir fühlen uns von uns selbst entfernt. Erich Fromm fasst es so: „Selbst die vollkommenste Befriedigung seiner instinktiven Bedürfnisse löst sein menschliches Problem nicht; denn seine heißesten Leidenschaften und Bedürfnisse sind nicht die aus seiner Körperkonstitution stammenden, sondern diejenigen, die in der Eigenart seiner menschlichen Existenz verwurzelt sind.“171 Die genannten Zusammenhänge tragen zu unserer Umtriebigkeit bei, die sich auch in Machtstreben, Kaufrausch, Süchten und Geldgier äußert. Uns fehlt etwas, und wir fühlen nicht, was es ist. Wir wollen das Loch stopfen, und dazu ist uns manchmal jedes sich bietende Mittel recht. Wenn wir lernen würden, mit unserer inneren Leere zurechtzukommen, anstatt sie durch Geltungsdrang, Aktionismus und Konsum zu verdrängen, bräuchten wir viel weniger zum Leben.

       Die Entwicklung geistiger Stärke

      In einem Vorstellungsgespräch oder, wenn wir vor vielen Menschen sprechen oder, wenn wir auf Fremde zugehen sollen, sind wir oft unsicher und schüchtern. All das sind Situationen, in denen sicheres Auftreten – Selbstbewusstsein – gefragt ist. Dazu gehört das Grundgefühl, richtig zu sein, sich selbst nicht in Frage zu stellen und sich mögliche Fehler zu gestatten. Am deutlichsten wird das, wenn wir einen anderen Menschen begehren. Viele Männer und Frauen scheuen davor zurück, jemanden anzusprechen, der ihnen gefällt. Dabei könnte dies ein schönes Spiel sein. Warum sollte man nicht häufiger Wildfremde, die einen interessieren, ansprechen – nur um herauszufinden, ob sie das Gefühl, das man hatte, bestätigen? Es gibt kaum etwas, das vordergründig dagegenspricht, und trotzdem ist es in der westlichen Gesellschaft immer noch unüblich und eher den notorischen Schwerenötern vorbehalten. Wir verhalten uns meist so, als müssten wir unter allen Umständen jegliche Niederlage in dieser Hinsicht vermeiden, weil sie eine nicht wiedergutzumachende Demütigung darstelle. Und so fühlt es sich für viele auch an: Selbst wenn man von anderen für die Niederlage nicht gehänselt wird, ist sie schwer zu ertragen und hängt einem oft lange nach.

      Warum ist das so? Zunächst sollten, von außen betrachtet, unsere Neugier und Experimentierfreude der Versagensangst gegenüberstehen, und die Frage, warum wir uns häufig gegen eine Kontaktaufnahme entscheiden, ist berechtigt. Die Erklärung könnte sein, dass unsere Angst vor der Niederlage viel größer ist als der in Aussicht stehende Gewinn. Was gibt uns das Gefühl, dass eine solche Niederlage so groß und unerträglich sei? Bei diesen Situationen stehen wir als Person im Mittelpunkt und können uns nicht hinter einem Auftrag, einer anderen Person, einem Sachzwang oder ähnlichem verstecken.172 Am deutlichsten wird es immer dann, wenn wir einen anderen Menschen begehren. Das können wir nur selbst tun, und es gelingt auch nur, wenn wir für uns selbst sprechen. Verstecken wir unser