Peter Strauß

Ende offen


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wieder erholen kann. Auf diese Weise überleben beide Arten.

      Nie rotten Jäger ihre Beute aus, sondern es stellt sich zwischen dem Raubtier und seiner Beute immer ein Gleichgewicht her, das für beide Arten erträglich ist. Im natürlichen Umfeld ist es nie der Fressfeind, der die Arterhaltung einer Tierart gefährdet, sondern der besser an die Umgebung angepasste Konkurrent.183 Exemplare einer Spezies, die sich besser angepasst haben, setzen sich bei der Vermehrung durch und verdrängen langfristig die Artgenossen, die diese Mutation nicht aufweisen. Der Mechanismus dazu sind innerartliche Kämpfe um die Fortpflanzung.

      Konrad Lorenz liefert mit den von ihm beschriebenen Zusammenhängen eine allgemein gehaltene Erklärung der Aggressivität. Es bleibt unberücksichtigt, dass das individuelle Niveau der Aggressivität stark von dem erfahrenen Maß an Geborgenheit in der frühesten Kindheit und durch die Menge der Gewalterfahrungen während des Aufwachsens bestimmt wird, wie bereits in Kapitel 2.4 und weiter unten in Kapitel 2.7 beschrieben. Dass manche geschlagenen Kinder sich weniger gewalttätig verhalten und andere aggressiver werden, spricht nicht gegen diese Theorie. Nicht jeder hat die gleichen Fähigkeiten, Gewalterfahrungen zu verarbeiten, weil wir Menschen unterschiedlich sind.

       Ersatz für aggressive Handlungen

      Aus den oben genannten Gründen – Revieraufteilung, Auswahl bei der Fortpflanzung, Verteidigung gegen Fressfeinde – dienen Kämpfe der Arterhaltung. Andererseits verbraucht jeder Kampf Kräfte und bedeutet ein Verletzungsrisiko. Die Natur hat einige Mechanismen erfunden, die Verletzungen oder den direkten Kampf vermeiden: Viele Tiere haben relativ stumpfe, kampfungeeignete Waffen wie beispielsweise nach hinten statt nach vorne gebogene Hörner. Auch eine definierte Rangordnung in einer Herde verhindert Kämpfe. Bei vielen Tieren hängt die Rangstufe mit der Größe von Muskeln und Körper oder mit dem Alter zusammen. So wurde wohl die Hierarchie erfunden, wobei sich diese vor der Sesshaftwerdung lediglich darauf erstreckte, wer bei der Paarung und beim Fressen Vorrang hatte, wer bei der Verteidigung gegen Feinde in der ersten Reihe stand und wer den Weg der Gruppe festlegte – was nicht immer ein eindeutiger Vorteil ist. Zwecks Gewaltvermeidung gibt es weiterhin Ersatzhandlungen wie Imponiergehabe und Drohgebärden, die helfen, Revierkämpfe und Kämpfe um die Rangordnung abzumildern. In der heutigen Zeit gehört auch das Fahren eines Sportwagens dazu. Statt mit jedem Fremden Krieg auf der Straße anzuzetteln, gibt man mit einem „potenten“ Auto an. Dicke Muskeln und eine verspiegelte Sonnenbrille sind einfachere Machtdemonstrationen, ein Maßanzug gepaart mit jovialen Gesten die kulturell höherstehenden – beide erfüllen den Zweck, einen Statusanspruch zu äußern, ohne dass es einer „klärenden“ Konfrontation bedarf.

      Ebenso stellt jede Form von Höflichkeit eine Beschwichtigungsgeste dar, die aggressives Verhalten bei einer Begegnung verhindert. Beobachten Sie sich einmal selbst, wie Sie sich fühlen, wenn jemand Sie nicht freundlich grüßt, nicht „Bitte“ und „Danke“ sagt usw. Wir gehen selbstverständlich davon aus, das gehöre sich so, alles andere sei unverschämt. Aber was ist der Zweck dieser Gesten? Sie verhindern, dass unsere hohe Aggressionsbereitschaft automatisch zu ausgeprägtem Revierverhalten innerhalb der eigenen Gruppe führt. Beschwichtigungsgesten gibt es im Tierreich ebenso wie beim Menschen. Unterlässt eine andere Person einen Gruß oder eine Geste, die man aus Höflichkeit erwarten würde, ist man schnell irritiert. Dieselbe Reserviertheit und latente Kampfbereitschaft zeigen wir unwillkürlich gegenüber Fremden, wenn wir nicht wissen, wie wir diese einschätzen sollen.184 Schon ein plötzliches Lächeln eines Fremden, der auf uns zukommt, entspannt die Situation.

       Liebesfähigkeit

      Beschwichtigungsgesten sind essentiell für alle Herdentiere, die begrenzte Reviere bewohnen. Noch wichtiger sind sie für die Fortpflanzung. Die Evolution war gezwungen, dem hohen Maß an Aggressivität innerhalb der eigenen Art etwas entgegenzustellen. Balzrituale signalisieren dem „Gegner“, dass es sich nicht um einen Angriff handelt, der die Reviergrenzen klären soll, sondern um einen Annäherungsversuch, der keineswegs feindlich gemeint ist.185

      Die nächsthöhere Stufe der Unterdrückung von Aggressivität zwecks Paarung ist die Ehe. Bei weniger hoch entwickelten Tieren gibt es die Ortsehe, d. h, die Partner sind über das gemeinsame Revier verbunden. Storchenpaare beispielsweise erkennen sich weit entfernt vom Nest nicht wieder, sind also nur über den Nistplatz miteinander verbunden. Bei höher entwickelten Tieren gibt es die mit starken Emotionen verbundene Ehe, die aggressionshemmend wirkt. Wie stark diese Wirkung ist, kann man sich ausmalen, wenn man sich vorstellt, man müsste dieselbe Intensität der Beziehung statt mit dem geliebten Partner mit jemand Wildfremden erleben oder mit jemandem, den man abstoßend findet.186 Liebe ist die schönste Ersatzreaktion und Ausweichhandlung zur Vermeidung von Aggressivität. Gleichzeitig ist sie eng an Aggressivität gebunden, weil sie ohne diese gar nicht benötigt würde. „Es gibt sehr wohl intraspezifische Aggression ohne ihren Gegenspieler, die Liebe, aber es gibt umgekehrt keine Liebe ohne Aggression.“187

      Auch gegenüber den eigenen Kindern müssen alle Tiere Mechanismen zur Hemmung aggressiver Impulse haben, die ja gerade während der Kinderaufzucht gegenüber anderen Tieren verstärkt sind, um die Jungen zu schützen.188 Bei (höher entwickelten) Säugetieren ist dies ebenfalls eine Form der Liebe.

       Aggressivität und Jagd

      Aggression ist gegen Artgenossen gerichtet. Wenn ein Löwe eine Gazelle jagt, stellt dies keine Aggression des Jägers gegen seine Beute dar – auch wenn dies in nahezu allen Spielfilmen anders dargestellt wird. Der Jagdinstinkt ist ein gänzlich anderes Gefühl als die Aggression, es ist eine freudige Erwartung und wird lustvoll erlebt.189 Spielen und Sport sind das Üben von Jagd, und beides geht mit denselben positiven Gefühlen einher. Wenn wir als Kinder fangen spielten und einem anderen Kind hinterherliefen, hatten wir dasselbe Gefühl, das Raubtiere beim Jagen empfinden. Interessanterweise bedeutet das englische Wort game im Deutschen gleichermaßen „Wild“ und „Spiel“.

      Jagd und innerartliche Kämpfe sind beide mit Gewaltbereitschaft verbunden. Die Jagd ist mit Lustgefühlen verknüpft, aber am Ende steht die Tötung und Zerlegung der Jagdbeute, was mit Gewalt verbunden ist. Dass Jagen der Nahrungsbeschaffung vieler Tiere und auch der Menschen dient, hat dazu beigetragen, dass solche Gewalt in unserem Denken und Empfinden etabliert ist. Dieselbe Gewalt wie bei der Jagd wendet man – kombiniert mit Aggressivität – im Kampf gegen Rivalen bei der Paarung oder im Revierkampf an. Ich denke, diese Parallele hat auch zu der irrigen Ansicht geführt, dass Jagd mit Aggressivität verbunden sei.

      Wenn wir Sport treiben, ist das eine Ersatzhandlung für Revierkampf und Jagdtrieb, da die wenigsten von uns noch wirklich zur Jagd gehen und sich mit den Nachbarn um ihr Revier prügeln. Uns geht es ebenso wie der erwähnten Hauskatze, die ihren Jagdtrieb im Spiel befriedigt, selbst wenn sie sattgefressen ist. Diese Triebe wollen unabhängig von ihrem Zweck ausgelebt werden. Dies dient dem Üben von Bewegungsabläufen. Daher tun das alle Tierkinder und auch die Menschenkinder gerne, und es ist keineswegs Zeitverschwendung.

       Sackgassen der Evolution und menschliche Aggressivität

      Wenn der Anreiz zur natürlichen Auslese nicht von außen kommt, kann die Evolution in Sackgassen geraten. Ein Anreiz von außen wäre beispielsweise, dass bessere Sinnesorgane nützlich bei der Nahrungssuche und dem Erkennen von sich anschleichenden Raubtieren sind. Wer schärfere Sinne hat, hat einen Vorteil bezüglich der Arterhaltung. Einen Anreiz zur Auslese von innen, eine „innerartliche Zuchtwahl“, wie Lorenz es nannte, gibt es beispielsweise bei Paradiesvögeln und Argusfasanen.190 Das Merkmal, dessen Ausprägung sie bei der Fortpflanzung begünstigt, erfüllt keinen äußeren Nutzen. Aus irgendeinem Grund oder aus Zufall hat es sich ergeben, dass Weibchen buntere Männchen mit größeren Flügeln bevorzugen. Vielleicht bedeuteten zu Beginn die größeren, bunten Flügel auch eine Verbesserung der Überlebensfähigkeit. Das buntere Männchen gewinnt das Weibchen beim Balzen. Dieses Merkmal hat sich im Wettstreit um die Weibchen durch Zuchtwahl nun immer stärker ausgeprägt. So wurden die Männchen immer farbenprächtiger und entwickelten immer größere Flügel, bis sie kaum noch flugfähig waren. Werden ihnen die aufwändigen Federn zum Verhängnis, weil sie häufiger gefressen werden