Peter Strauß

Ende offen


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unser Zerstörungspotential. Damit müssen wir heute leben und zurechtkommen. Eine Art, die das Überleben aus Sicht der Evolution verdient hat, muss dazu in der Lage sein, ihre Hitlers und Stalins ebenso wie gewaltsame „Kindererziehung“ (Schwarze Pädagogik), die die Aggressivität in der Gesellschaft erhöht, abzuschaffen. Zu viel Aggressivität wird von der Evolution nicht geduldet und kann zum Aussterben führen. Das Aggressionsniveau lässt sich nicht durch Willenskraft, sondern nur durch Ersatzhandlungen wie Sport und Spiel absenken. Was wir jedoch tun können, ist, unsere Gesellschaft so umzugestalten, dass unser Überleben nicht mehr durch Aggressivität gefährdet wird.

      Im steinzeitlichen Gruppenleben gab es die Freundschaft und Liebe zur Familie und Gruppe sowie die Liebe zum Partner, die ein Gegengewicht zur Aggressivität darstellen. In unserer Gesellschaft und zwischen Nationen, Staaten und Völkern fehlt bisher eine Entsprechung – auch wenn vor hundert Jahren die Liebe zum eigenen Volk oder die Bruderschaft von Nationen in politischen Reden oft beschworen wurden – vielleicht gerade weil sie fehlte. Wenn wir ein solches Empfinden entwickeln können, wird das der Aggressivität zwischen Nationen vorbeugen. So gesehen kann man sich einen intensiven Austausch zwischen allen Nationen nur wünschen.

       2.6 Minderheiten und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

      Mit einer gewissen Regelmäßigkeit blüht der Rechtsradikalismus in Deutschland auf. In den Neunzigern waren es die Republikaner, dann kam die Schill-Partei, und derzeit hat die Alternative für Deutschland (AfD) viel Zulauf und die größten Erfolgschancen einer rechten Partei seit dem Zweiten Weltkrieg. Und jedes Mal scheint keiner zu wissen, woher das kommt. Die Äußerungen von Politikern und Medien offenbaren meist Unkenntnis der Hintergründe und klingen hilflos.

      Beispiel Landtagswahlen 2016: In jedem Bundesland hat die AfD dazugewonnen, und viele fragen sich, wie sie dem Rechtsruck und der Flüchtlingsfeindlichkeit begegnen können. Als Maßnahme wird vorgeschlagen, die CDU müsse die Angst vor Überfremdung ernstnehmen und entsprechend handeln. Bei der Bundestagswahl 2017 bestätigt sich der Trend nach rechts, woraufhin CDU und CSU darüber nachdenken, selbst mehr rechte Inhalte anzubieten. Bisher kommen Gegenkonzepte kaum darüber hinaus, uns zum Kampf gegen Rechts und zu Gegendemonstrationen aufzurufen. Die Ursachen des Rechtsradikalismus bleiben unklar.

      Gegendemonstrationen, das Willkommenheißen der Flüchtlinge sowie Hilfeleistungen bewirken lediglich, dass die Bildung der öffentlichen Meinung nicht komplett den Rechten überlassen wird. Rechtsradikale werden ihre Ansichten indes nicht ändern, sondern sich durch den „Gegenwind“ eher noch bestätigt fühlen.201

       Die Heitmeyer-Studie

      In den Jahren 2002 bis 2012 wurde unter der Leitung des Bielefelder Soziologen Professor Wilhelm Heitmeyer eine groß angelegte Langzeitstudie202 zu einem Phänomen durchgeführt, das er als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bezeichnet. Hieran waren zahlreiche Wissenschaftler beteiligt. Über einen Zeitraum von zehn Jahren wurden dieselben Personen in regelmäßigen Abständen befragt.203 Man wollte herausfinden, wie sich Fremdenfeindlichkeit, Hass auf Schwule und Lesben, Diskriminierung von Juden, Ausgrenzung oder Herabwürdigung von Frauen, Behinderten, Obdachlosen usw. verändern und mit welchen äußeren Faktoren dies korreliert.

      In der Studie wurde nachgewiesen, dass abnehmende Zukunftschancen zu einer Zunahme gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit204, stärkerer Abgrenzung und einer Zunahme konservativer Einstellungen führen. Relevant sind dabei nicht die messbaren Verhältnisse, sondern die empfundene Chancenlosigkeit, Machtlosigkeit und Existenzgefährdung.205 Besonders stark trägt zu diesem Empfinden ein Rückgang der Lebenschancen der Jugend bei. Zurückgehende Zukunftschancen führen zur Abgrenzung durch das Aburteilen anderer.206 Dies stellt genau die Kernaussage der meisten rechtsradikalen Gruppierungen dar: „Ausländer, Linke, Flüchtlinge und andere Schmarotzer sind daran schuld, dass es uns schlechter geht. Wir müssen uns dagegen wehren.“ In der letzten Zeit richtet sich diese Menschenfeindlichkeit vorwiegend gegen Flüchtlinge.207

      Viele Soziologen verstehen die Abgrenzung gegen andere als eine Maßnahme zur Stärkung der eigenen Gruppe.208 Die Aggressivität nach außen soll den Zusammenhalt nach innen festigen. Für die Arterhaltung ist es von Vorteil, wenn die stärkste Gruppe mehr Raum einnimmt. Doch die Prinzipien des biologischen Überlebenskampfes gelten nicht mehr für unsere heutige Zeit. Wo würde er langfristig hinführen? Wollen wir, dass die stärkste Nation, Firma, Ethnie irgendwann die Weltherrschaft übernimmt, den Rest unterwirft und die gesamte Bevölkerung stellt? Oder wollen wir als Menschheit in Vielfalt weiterleben?

       Geht es uns schlechter, schotten wir uns ab

      Mit zunehmender Prekarisierung und den damit verbundenen Ängsten und Ohnmachtsgefühlen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich viele Menschen nach rechts orientieren.209 Man kann davon ausgehen, dass die Hartz-IV-Gesetze und andere Maßnahmen der Agenda 2010 sowie die Folgen des Neoliberalismus durch die Verschlechterung der Chancen der Betroffenen zu einem Rechtsruck geführt haben. Das ist auch eine Erklärung dafür, warum der Osten Deutschlands fremdenfeindlicher ist – hier gibt es seit der Wende immer noch weniger Arbeitsplätze und mehr Abwanderung als im Westen. In vielen ländlichen Regionen des Ostens leben überwiegend ältere Menschen, was nicht gerade für Aufbruchstimmung sorgt.210

      In einer homogenen Gesellschaft, in der es allen gleichermaßen gut geht, wird sich kaum ein Rechtsruck ergeben. In den letzten fünfzig Jahren kam die Welt auch ohne ein solches Phänomen aus. Eine derartige Bewegung benötigt nicht nur die Möglichkeit in Form einer neu gegründeten Partei, sondern auch einen hinreichenden Grund dazu – keine Wirkung ohne Ursache. Warum sollte sich eine starke Bewegung bilden, wenn es allen unverändert gut geht? Eine Polarisierung, die der fast weltweit zu beobachtende Rechtsruck darstellt, muss also auf einer Spaltung der Gesellschaft beruhen. Als Hauptursache des Rechtsrucks meine ich die weltweit zunehmende Ungleichverteilung (siehe Kapitel 3.8) ausgemacht zu haben.

      In Deutschland haben wir durch die Agenda 2010 die Leistungsgesellschaft über die Solidargemeinschaft gestellt, nach dem Prinzip: „Erst das Geld, dann der Mensch, denn der Mensch muss ja vom Geld leben.“ Eine wesentliche Ursache für die sich entladende Wut und die Wende nach rechts und hin zum Reaktionären ist, dass es vielen jetzt schlechter geht: Jugendliche finden keinen unbefristeten Job, Erwachsene haben nur Aussicht auf ein Überleben durch staatliche Almosen, aber kein Leben, das dem der Mitte der Gesellschaft ebenbürtig ist, und alte Menschen müssen ihre Rente mit Hartz IV aufstocken. In den letzten zehn Jahren sind die Einkommen der Geringverdiener im Mittel gesunken, während die Lebenshaltungskosten anstiegen. Während man vor einigen Jahrzehnten auch in „einfachen“ Berufen ein ordentliches Auskommen hatte, reicht es heute nur noch zum Überleben, aber nicht mehr für Wohlstand – als Geringverdiener ist man vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Ein immer größerer Teil geht für die Wohnung, für gestiegene Nebenkosten, Strom, Telefon, Miete oder Kleinkredite weg. Wer heute als Dienstleister beispielsweise in den Bereichen Einzelhandel, Krankenpflege oder Frisörhandwerk arbeitet und ein Gehalt in der Nähe des Existenzminimums bekommt, hat keine Chance, sich irgendwie weiterzuentwickeln. Sein Gehalt geht komplett für den Lebensunterhalt drauf, und er hat keine Möglichkeiten, etwas zu sparen oder zur Altersvorsorge zurückzulegen. Somit hat er auch keine Chance, der Geldentwertung und den steigenden Kosten zu entkommen. Jetzt müssen wir als Gesellschaft mit der Wut der Betroffenen als Folge dieser Maßnahmen zur Effizienzsteigerung leben. Es ist also falsch, dass die Politik kaum etwas gegen den neuen Rechtsextremismus tun könne und für ihn auch nicht verantwortlich sei – Neoliberalismus und Sparprogramme haben ihn mit befördert.211

      Schlimmer noch sieht es nach der Finanzkrise in Südeuropa aus. Die Zeit schreibt, dass die Arbeitslosigkeit der unter 25jährigen im Jahre 2014 in Spanien 55,5 %, in Griechenland 57,2 %, in Italien 40,9 % und in Frankreich 24,8 % betrug.212 Weiter: „Die Einkommen der Generation, die in diesen Ländern nach 1970 geboren wurden, sind sogar um 25 bis 30 Prozent niedriger als die Einkommen, die nötig wären, damit später geborene Generationen (…) vom selben Einkommenstrend wie ihre Vorgängergenerationen profitieren“.213 Das sind nach Heitmeyer Faktoren, die die gesamtgesellschaftlich