Peter Strauß

Ende offen


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für deren Nöte und Befindlichkeiten lassen. Viele Traumatisierungen werden so von einer Generation an die nächste weitergereicht.

       Vergessenes Leid

      In den Schlachten zweier Weltkriege und in den KZs des Dritten Reiches sind Millionen Menschen gestorben und Millionen auf irgendeine Art verletzt worden. Die, die es am schlimmsten traf, sind tot. Wer Glück hatte, überlebte. Damit ist die Erinnerung an die Kriege in der Gesellschaft erheblich zu positiv. Es werden die Geschichten von den Menschen erzählt, die dem Tod knapp entronnen sind. Diejenigen, die das nicht schafften, haben ihre Geschichte mit ins Grab genommen. Für alle Kriege gilt gleichermaßen: Die Geschichte schreiben die Überlebenden.217 Somit stellt alle Überlieferung des Geschehenen aus den Erzählungen der Augenzeugen eine Beschönigung dar.

      Heutige Kriege sind mehr oder weniger weit weg von uns. Vielen Menschen ist zwar klar, dass Krieg nach Möglichkeit vermieden werden sollte; weil aber unsere heutige Gesellschaft nur den Frieden kennt, haben wir kaum eine realistische Vorstellung von den Kriegsfolgen.

      Die heute in Europa Regierenden haben keinen Krieg erlebt und kennen Kriegserzählungen nur von ihren Eltern oder Großeltern – sofern diese etwas erzählten, denn die meisten Zeugen des Zweiten Weltkrieges taten das nicht.

       Das Aggressionsniveau wird von Eltern an Kinder weitergegeben

      Die in Kapitel 2.4 beschriebenen Yequana-Indianer leben auf einem deutlich niedrigeren Niveau von Aggressivität. Aggressive Handlungen kommen innerhalb eines Stammes so gut wie nicht vor. Trotz ihrer friedlichen Gesinnung halten sie sich bis heute im venezolanischen Regenwald. Offensichtlich hat die Natur nichts gegen friedliche Menschen. Wenn aber Friedliche und Aggressive aufeinandertreffen, stehen die Chancen für die Friedlichen schlecht.218

      Konrad Lorenz und die Heitmeyer-Studie haben aus zwei unterschiedlichen Perspektiven gezeigt, dass Menschen aggressiver werden, wenn sich ihre Lebensbedingungen verschlechtern oder ihr Lebensraum zu klein wird. Dann ist es mit der Friedfertigkeit vorbei, und die Aggressiveren setzen sich durch. Die Natur hat nichts gegen ein friedliches Leben – solange genügend Raum für alle da ist. Unsere Vermehrung in den letzten zehntausend Jahren hat in diesem Sinne den Auslöser für einen Anstieg der Aggressivität geliefert, da wir nun erheblich häufiger fremden Menschen begegnen und viel weniger Platz haben. In der Steinzeit konnte ein menschliches Rudel viele Quadratkilometer für sich allein beanspruchen. Vor allem die Veränderungen der letzten fünfhundert Jahre – Landflucht, zunehmende Individualisierung, Bevölkerungswachstum – haben dazu geführt, dass wir weniger in überschaubaren Gemeinschaften leben, sondern mehr mit uns nicht persönlich bekannten Menschen zu tun zu haben.

      Seit Jahrhunderten ist das Aggressionsniveau der Europäer sehr hoch, und erst in den letzten fünfzig Jahren ist es langsam abgeklungen. Über Jahrhunderte war es für jeden männlichen Jugendlichen klar, dass die Zeit bis zum Erwachsensein mit Rivalitäten und Prügeleien verbunden sein würde. Über lange Zeit war klar, dass in jeder Gruppe Schwächere und Außenseiter gehänselt und ausgegrenzt werden. Ja, all das gibt es auch heute noch. Aber ich bin der Ansicht, es ist seltener als noch zu meiner Schulzeit. Verletzungen bei Prügeleien auf Schulhöfen sind rückläufig.219 Gewaltkriminalität durch Jugendliche war in den letzten Jahren – entgegen der Einschätzung der Teilnehmer einer Befragung – rückläufig.220 Hass auf Randgruppen und Kriegsbegeisterung sowie gewalttätige Auseinandersetzungen, beispielsweise bei Demonstrationen, waren noch vor hundert Jahren wesentlich weiter verbreitet – Demonstrationen wurden immer wieder mit Waffengewalt unterdrückt. Solche Vorkommnisse sind in Deutschland seither seltener geworden.

      Die oben aufgezählten äußeren Auslöser haben unsere Bereitschaft zur Aggressivität in den letzten Jahrhunderten gesteigert, aber auch mangelnde Geborgenheit in der frühesten Kindheit und gewalttätige Erziehung haben ihren Teil dazu beigetragen. Der wesentliche Punkt dabei ist: Die ausgesäte Gewalt setzte sich von Generation zu Generation fort. Erfahren Kleinkinder wenig Liebe und stattdessen Gewalt, so werden daraus aggressivere Erwachsene. Darüber hinaus bewirkt die Grobheit, die man als Kind selbst erfahren hat, dass man dies später als normal empfindet und tendenziell weniger zu Mitgefühl fähig ist. Die Verletzung der Integrität wirkt also doppelt: Man hat mehr Wut in sich, die nach Gelegenheiten zum Ausbruch sucht, und man neigt dazu, die gewalttätigen Umstände, unter denen man aufwuchs, für richtig zu halten. Jesper Juul fasst zusammen: „Physische Gewalt bedeutet für alle Menschen eine Verletzung ihrer Integrität, auch für Kinder. Das gilt, selbst wenn wir das etwas anders bezeichnen: ‚der letzte Ausweg’, ‚der verdiente Klaps hintendrauf’, ‚das Züchtigungsrecht’. Allein die Zahl der Euphemismen, die wir gebildet haben, um es nicht einfach Gewalt zu nennen, spricht dafür, dass wir gut wissen, dass etwas nicht stimmt.“221

      Mein Aufwachsen in den Siebziger und Achtziger Jahren hat mir sehr deutlich gezeigt, wie Aggressivität von einer Generation zur nächsten übergeben wird: Sind Eltern durch Kriegserlebnisse oder aufgrund einer von Gewalterfahrungen geprägten Kindheit traumatisiert, so fehlt ihnen häufig Mitgefühl, und sie sind nicht in der Lage, ihren Kindern die nötige Geborgenheit zu geben. Viele Eltern konnten es nicht aushalten, dass es ihre Kinder im Leben leichter hatten und sorgloser, neugieriger, ohne Vorbelastung ins Leben gingen. Um sie auf den „Ernst des Lebens“ vorzubereiten, wurden viele präventiv von den Eltern unterworfen und gedemütigt, damit sie es „später leichter hätten“.222 Beispielsweise konnten es meine Eltern nicht ertragen, wenn ich als Kind ausgelassen oder übermütig spielte. Sie empfanden impulsive und laut geäußerte Lebensfreude als Störung der Ruhe und Ordnung und ermahnten und zwangen mich immer wieder dazu, leise zu sein oder stillzusitzen.

      Juul weiter: „Die andere [Erklärung für das Streben vieler Eltern, die Kinder zu regulieren] ergibt sich daraus, wie wir Menschen, wenn wir in unseren Beziehungen zu anderen erleben, dass wir nicht so wertvoll sind, wie wir gern wären, unmittelbar reagieren: nämlich aggressiv. Wir sind gereizt, frustriert, wütend und gewalttätig.“223 Ganz allgemein greifen Eltern, deren Integrität durch Gewalt in ihrer eigenen Kindheit oder durch Kriegserfahrungen beschädigt wurde, auch ihren Kindern gegenüber schneller zu Gewalt und halten das eher für richtig als unbeeinträchtigte Eltern. Aggressivität ist durch „Erziehung“ vererbbar. Wie A. S. Neill feststellt, hat noch nie ein glücklicher Mensch Krieg gepredigt, an seinen Kindern herumgenörgelt, seine Angestellten terrorisiert oder einen Mord oder Diebstahl begangen. Wer Gewalt erlebt hat, neigt selbst zu Gewalt und toleriert sie eher.224

      Die Verletzung der Integrität ist es, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, und dies bedingt sich wechselweise mit einem höheren Niveau von Aggressivität in der Gesellschaft. Dies mag einen Sinn haben, denn aus Sicht der Evolution ist es nützlich, in Notzeiten die Aggressivität hoch zu halten, um die Revierausnutzung zu verbessern und die Bereitschaft zu Veränderungen anzuheben. Es scheint dem Überleben einer Art zu dienen, ein einmal benötigtes, besonders hohes Aggressionsniveau über Jahrzehnte bzw. mehrere Generationen aufrechtzuerhalten. Dieser Gedanke mag spekulativ sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass dieser Mechanismus nicht zufällig entstanden ist, sondern aus evolutionärer Sicht einen Zweck erfüllt. Selbst die Möglichkeit, dass er zufällig entstanden ist und lediglich nicht störend wirkt, ist unwahrscheinlich. Brächte dieses Wirkprinzip tatsächlich einen Nachteil für die Arterhaltung, würde es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder zurückbilden.225 Daher nehme ich an, dass der langsame, über Generationen laufende Rückgang der Aggressivität einen Zweck erfüllt.

      Ähnliche Mechanismen finden an vielen Stellen Anwendung: Stolpere ich auf einem Weg, gehe ich unwillkürlich mit erhöhter Aufmerksamkeit weiter, denn vielleicht bin ich von einem befestigten auf einen unbefestigten Weg gelangt. Trete ich in eine Pfütze, lohnt es sich weiter, auf Pfützen zu achten, denn vielleicht erwarten mich noch mehr davon. Nach diesen Prinzipien funktionieren auch adaptive Fahrwerke und andere Software in den Steuergeräten heutiger Fahrzeuge. Wir können zwar die Zukunft nicht vorhersagen. Tritt jedoch ein auffälliges Ereignis ein, hat es sich bewährt, zunächst davon auszugehen, dass es sich wiederholen kann. Ein solcher Generalisierungsmechanismus steuert offenbar auch die Aggressivität der Menschen, indem er dafür sorgt, dass ein einmal hohes Niveau nach dem Verschwinden der Bedrohung nicht