Peter Strauß

Ende offen


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ähnlich sind.7

      Aggressivität, Faulheit, Egoismus: dieses genetische Erbe erscheint allerdings allzu inkompatibel zu unserem heutigen Leben und wird daher gerne als falsch eingestuft – ganz so, als sei der Mensch eine Fehlkonstruktion, die korrigiert werden müsse. Solche „Korrekturmaßnahmen“ waren in der Vergangenheit der Ursprung vielen Leids. Beispielsweise hat die durch die Kirche geforderte lebenslange Monogamie im Europa der vorigen Jahrhunderte nicht zu mehr ehelicher Treue geführt. Die als verwerflich erkannte Untreue ließ sich nicht durch ein Verbot beseitigen. Das Konzept der Monogamie mag zwar Eingang in unser Denken gefunden haben, es bestimmt aber nicht immer unser Handeln. Trotz der möglichen sozialen Ächtung gehen Menschen fremd, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, oder sie leben ihre Triebe gewaltsam in Situationen aus, in denen ihnen keine Bestrafung droht. All diese Varianten bedeuten für irgendeinen Menschen ein Leiden. Ebensowenig, wie man seinen Sexualtrieb vollständig unterdrücken kann, lassen sich auch die anderen Triebe und Mechanismen, die uns die Evolution mitgegeben hat, willkürlich ablegen. Damit müssen wir uns auseinandersetzen.

      Der Mensch ist so, wie er ist, das ist nicht zu leugnen. Und er ist aus gutem Grund so. Wir haben unsere Eigenschaften entwickelt, weil sie sinnvoll waren. Ich bin überzeugt, dass wir zum Überleben keine „Erziehung“8 benötigen, die uns erst zur Lebensfähigkeit formen müsse – nach dem Prinzip „schnell eine Form, sonst wird’s ein Schwein“ –, denn das, was wir sind, ist nicht falsch, sondern ideal angepasst. Es hat uns Hunderttausende von Jahren gut gedient und das Überleben gesichert. Auch können wir diese Eigenschaften nicht durch bloßes Wollen ablegen, da die dahinterliegenden Triebe in vielen Fällen zu stark sind. Wenn wir dies akzeptieren, entwickeln wir einen anderen Blick auf die Gegenwart und kommen zu anderen Schlüssen. Dann stellt sich die Frage, wie wir beispielsweise unsere Aggressivität so integrieren können, dass sie keinen Schaden anrichtet und nicht unsere Existenz gefährdet. Wolfgang Schmidbauer formuliert es so: „Die Frage ist noch offen, ob der zivilisierte Mensch in dem von ihm selbst so einschneidend veränderten Öko-System überleben kann. – Daß die Jäger und Sammler überlebt haben, wissen wir.“9

      Wir haben uns genetisch so gut wie gar nicht und geistig recht wenig an die von uns geschaffenen neuen Verhältnisse angepasst. Auch haben wir unsere Lebensumstände bisher nicht so gestaltet, dass sie zu unserem biologischen Erbe passen.

       1.3 Vor fünfhundert Jahren, in fünfhundert Jahren

      Blicken wir einmal zum Ende des Mittelalters zurück: Amerika war gerade entdeckt worden. Luther hatte die Reformation in Gang gesetzt. Der Buchdruck war soeben erfunden, und noch gab es Hexenverbrennungen. Die Erfindung der Dampfmaschine lag noch zweihundert Jahre in der Zukunft, und mit ihr die Industrialisierung. Menschen lebten überwiegend in Dörfern. Die damaligen Städte waren im Vergleich zu den heutigen Metropolen winzig. Befestigte Straßen waren die Ausnahme. Von der heutigen Wissenschaft waren noch nicht einmal die Grundzüge bekannt. Newton, Pascal, Watt und Kant waren noch nicht geboren.

      Wenn man dem gegenüberstellt, wie wir heute leben, was wir heute wissen und können, was sich alles geändert hat, stellt sich mir die Frage: Wie wird es in fünfhundert Jahren sein?

      Äußerlich hat sich unsere Welt in den letzten fünfzig Jahren weniger sichtbar verändert als in dem halben Jahrhundert davor. Wer meint, Technologie und Wohlstand in Europa seien in den letzten Jahrzehnten langsamer vorangekommen als in den besten Zeiten davor, stellt bei genauerem Hinsehen fest, dass die geistige Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg erheblich vorangeschritten ist – durch flächendeckende und freiere Bildung, aber auch durch Weiterentwicklung der Gesellschaft im Hinblick auf Freiheit, Toleranz, geistige Offenheit, komplexes Denken und Flexibilität. Hier haben wir uns weit über die Nachkriegsgeneration hinausentwickelt. Ohne diese Haltung könnten wir nicht in einer solchen Gesellschaft wie der unseren leben.

      Gerade das zwanzigste Jahrhundert hat eine ständige Beschleunigung der technologischen Entwicklung mit sich gebracht. Selbst wenn wir uns entgegen allen Anzeichen nicht so progressiv weiterentwickeln sollten wie in den letzten einhundert Jahren, werden wir uns in fünfhundert Jahren sehr stark verändert haben. Wie wird die Welt dann aussehen?

      Stellt man sich diese Frage, so bemerkt man, dass man meist kaum über die nächsten zehn Jahre hinaus denkt. Viele planen für noch kürzere Zeiträume, und das längste, was in der persönlichen Planung vorkommt, ist meist ein Zeitraum bis zur Rückzahlung eines Hausbaudarlehens oder das Ende des eigenen Lebens. Es erscheint uns ungewohnt, weiter zu denken. Das ist vollkommen natürlich. Im Leben im Urzustand hatte es keinen Sinn, sich Sorgen um die Zeit nach dem eigenen Tod zu machen. Erst die Entwicklung von Kultur, Besitz und Macht hat längerfristige Überlegungen sinnvoll gemacht. Was vererbe ich wem? Was kann ich an meine Kinder weitergeben? Kann ich der Nachwelt etwas Geistiges hinterlassen oder mein Andenken über meinen Tod hinaus erhalten? Kann das, was wir jetzt tun, später zu Katastrophen führen?

      Das Nachsinnen darüber, was in fünfhundert Jahren sein könnte, führt auch zu der Frage, was uns heute stört und was dann hoffentlich nicht mehr existieren wird:

      − Werden wir noch so leben, arbeiten, wohnen, Beziehungen und Familien haben wie heute?

      − Welche Technologien werden verschwinden, welche werden entstehen?

      − Werden wir immer noch unbekümmert und intensiv Ressourcen abbauen?

      − Werden Autos, Flugzeuge und Schiffe dann noch so aussehen wie heute und mit fossilen Brennstoffen betrieben?

      − Wird es unser Wirtschaftssystem noch geben, und wird dieses immer noch „alternativlos“ und für viele ausbeuterisch sein?

      − Wird es Banken noch geben?

      − Haben wir dann die relevanten Fragen aller Minderheiten geklärt?

      − Werden wir Gewalt negativ bewerten und trotzdem weiterhin tolerieren?

      − Wird die Welt noch von Kriegen überzogen sein?

      − Werden wir im Beruf, in Politik und Wirtschaft noch immer auf Konkurrenz und Wettbewerb setzen?

      − Haben wir in fünfhundert Jahren ein (Rechts-) System, das nicht mehr von allen dasselbe fordert, sondern individuellen Besonderheiten gerecht wird?

      − Wie und wie viel werden wir uns kleiden?

      − Wird Sex noch immer etwas teilweise Tabuisiertes sein, das niemand sehen soll, obwohl er etwas völlig Natürliches ist? Werden wir vielleicht Sexualität feiern, so wie wir heute Essen, Musik, Tanz und Sport feiern?

      − Werden Drogen wie Ecstasy, Speed und Kokain immer noch verboten sein und andere wie Nikotin und Alkohol erlaubt?

      − Welchen Platz werden Tier- und Umweltschutz in Politik und Gesellschaft einnehmen?

      − Werden wir immer noch die bekannten Probleme im Gesundheitssystem, Steuersystem usw. haben?

      − Welche Probleme werden wir gelöst haben, welche werden zu größeren Problemen oder Katastrophen geführt haben?

      − Werden wir uns endlich als eine Menschheit fühlen?

      − Wird es uns Menschen noch geben?

      Was werden Geschichtsbücher in fünfhundert Jahren über die heutige Zeit berichten? Dass wir Wohlhabenden Smartphones benutzten und wegen unserer Gier, unseres sinnlosen Besitzes und unserer Verschwendungssucht tolle Menschen waren, oder dass trotz der ungeahnten Möglichkeiten, die wir uns erarbeitet hatten, immense Ungerechtigkeit und Ungleichheit herrschten? Wie wird man darüber urteilen, dass Ausbeutung, Armut und Milliarden Hungernde einem sich schnell entwickelnden reichen Europa, Nordamerika und Teilen Asiens gegenüberstanden?

      Wenn wir das Mittelalter vor Augen haben, denken wir nicht, dass die damaligen Menschen aufgrund ihrer dogmatischen Religiosität bessere Menschen waren, sondern wundern uns über ihre Toleranz gegenüber brutalsten Foltermethoden. Es steht zu befürchten, dass unsere heutigen Schwächen späteren Generationen ebenso unverständlich erscheinen werden.

      Vor fünfhundert Jahren hätte man wahrscheinlich viele Menschen gefunden,