Heinrich Thies

Fesche Lola, brave Liesel


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noch so viele Socken stricken, Kartoffeln und Rüben von den Feldern sammeln, beten und singen, die endgültige Niederlage ist bald nicht mehr abzuwenden. Heerscharen von Kriegsinvaliden kehren von den Schlachtfeldern zurück, junge Männer humpeln, gestützt auf Krücken, mit schlotternden Hosenbeinen durch die Straßen und betteln um ein paar Pfennige oder ein Stück Brot. Andere proben den Aufstand, verprügeln ihre Offiziere, stürmen Schlösser, besetzen Rathäuser und Fabriken, gründen Arbeiterräte und hissen rote Fahnen. Der Kaiser sieht in dem allgemeinen Aufruhr keine andere Möglichkeit mehr, als sich mit seiner Familie in einen Zug zu setzen und nach Holland zu flüchten. Kein rühmlicher, aber immerhin ein komfortabler Abgang.

      Marlene reißt das bedrohliche Chaos dieser Tage aus ihren Backfischträumen. »Warum muss ich diese schreckliche Zeit miterleben«, schreibt sie am 9. November 1918 in ihr Tagebuch.

      Ich wollte doch eine goldene, frohe Jugend haben. Und nun ist es so gekommen. Der Kaiser tut mir so leid und all die andern! Heute Nacht soll es schlimm hergehen. Der Mob fällt über jeden her, der im Wagen fährt. Wir hatten ein paar Damen zum Tee gebeten, keine ist durchgekommen … Wo man hinsieht rote Fahnen. Was das Volk nur will … Ach, wenn ich doch nur ein bisschen glücklich wäre, dann wäre mir alles viel unbedeutender. Vielleicht kommt noch mal eine Zeit, wo hier in dem Buch von Glück die Rede ist, nur von Glück.

      Schon 1917 ist Marlene mit ihrer Mutter und ihrer Schwester von Dessau nach Berlin zurückgekehrt. Josephine von Losch zieht in eine Sechszimmerwohnung in der Kaiserallee 135 (heute Bundesallee). Sie wird von ihrer Familie unterstützt, sodass ihr das größte Elend der Nachkriegszeit erspart bleibt. Trotzdem muss sie manches Schmuck- und Möbelstück versetzen und mit ihren Töchtern Schlange stehen, um ein wenig Brot, Mehl und Milch zu ergattern. Den Geigenunterricht für Marlene übernimmt sie jetzt zeitweise selbst. Stolz beobachtet sie, dass ihre Jüngste trotz der schwierigen Zeiten viel dazulernt, und obwohl sie eine eher nüchterne Frau ist, die ihren Töchtern keine Flausen in den Kopf setzen will, kommt ihr auch mal ein Kompliment über die Lippen: »Du hast wirklich Talent, mein Kind.«

      Liesel und Lena besuchen nun in Berlin-Wilmersdorf die nahegelegene Victoria-Luisen-Schule (heute Goethe-Gymnasium). Liesel steuert mit großem Ehrgeiz auf das Abitur zu. Sie ist fleißig, diszipliniert, gehorsam und viel braver als die meisten ihrer Mitschülerinnen. Obwohl sie schon achtzehn Jahre alt ist, macht sie immer noch einen Knicks vor ihren Lehrern. Andere spotten über sie, aber darüber versucht sie hinwegzusehen. Einer ihrer Cousins wird später sagen, sie sei immer ein wenig geduckt durch die Welt gelaufen – geradeso, als krümme sie sich unter der Last, Tochter eines »Drachen« zu sein.

      Ganz anders Lena. Die hat sich zu einer selbstbewussten jungen Dame entwickelt und sitzt in der ersten Reihe – ob im Klassenzimmer oder beim Gruppenfoto. Sie träumt davon, Musikerin zu werden und mit ihrer Geige zu glänzen. In der Schule absolviert sie nur ihr Pflichtprogramm. Sie fällt vor allem dadurch auf, dass sie den Junglehrern schöne Augen macht. Einen Studienrat, heißt es, habe sie mit ihren kessen, herausfordernden Sprüchen derart aus der Reserve gelockt, dass der junge Mann die Schule verlassen musste.

      Liesel ist alarmiert, wenn sie solche Skandalgeschichten hört. Sie müht sich weiterhin, Lena auf den Pfad der Tugend zu lenken und dafür zu sorgen, dass die in Fleiß, Aufmerksamkeit und Betragen zumindest zufriedenstellende Noten erhält. Dabei nimmt sie es in Kauf, dass die jüngere Schwester sie als Wachhund in Diensten der Mutter betrachtet und alles tut, um sie abzuhängen.

      Auch in ihrem »Rotchen« stöhnt Marlene darüber, dass Liesel sie auf Schritt und Tritt verfolgt. Nicht mal in der Straßenbahn kann sie sich unbeobachtet fühlen. »Zum Beispiel wird Lise auf den Hinterperron der Elektrischen geschickt, wenn ich draußen stehe, damit sie auf mich aufpasst«, schreibt sie am 11. Juni 1918. »So etwas stößt einen ja erst auf das, was man nicht soll. Na, ich kann sie nicht ändern und sie mich nicht.«

      Bei allem Trotz reagiert Marlene bisweilen aber auch mit Selbstzweifeln auf die Kontrollbemühungen ihrer Schwester. »Warum bin ich nur so anders als Liesel und Mutti?«, fragt sie sich, als sie am 12. April 1919 Zwiesprache mit ihrem Tagebuch hält. »So trocken und berechnend sind die beiden, wie ein schwarzes Schaf bin ich hier.«

      Der Familienknatsch überschattet sogar eine Filmpremiere im Berliner Mozartsaal. Gezeigt wird Rose Bernd, Henny Porten ist in der Verfilmung des gleichnamigen Schauspiels von Gerhard Hauptmann an der Seite von Emil Jannings zu sehen. In der Titelrolle! Marlene hat sich schon Wochen auf die Premiere gefreut. Aber dann meldet auch ihre literarisch interessierte Schwester Interesse an. Liesel habe sie so lange gequält, bis sie sie mitgenommen habe, schreibt Marlene in ihrem Tagebuch. Zu allem Überfluss habe sich dann auch noch ihre Mutter angehängt.

      Trotzdem gelingt es Marlene, mit dem einen oder anderen zu flirten. »Jemand sagte mir, ich sähe so schön aus und so süß wie eine Puppe, die man immerzu küssen möchte«, schreibt sie. »Das dachten sicher auch ein paar Herren, die mich bis in die Loge verfolgten.« Ein älterer Herr habe sie sogar gefragt, ob sie auch vom Film komme, berichtet sie kokett. »Als Mutti kam, machte ich mich schnell wieder keusch und züchtig. Grausig ist das, wenn man keinen, aber nicht einen einzigen Menschen hat, dem man sagen kann, was man fühlt, und der dann nicht gleich mit guten Ratschlägen kommt, wie Mutti …«

      Dann aber erscheint im Kreise der Familie nach Tante Vally doch noch ein Mensch, dem sie sich nahe fühlt: Tante Jolly (ausgesprochen wie jolie), die Frau von Onkel Willi. Martha Hélène Teichner, kurz Jolly, hat mit ihrem früheren Angetrauten, einem amerikanischen Geschäftsmann namens McConnell, der mit Fahrgeschäften für Vergnügungsparks handelt, bereits eine Zeit lang in Hollywood gelebt. Mr. McConnell ist mit Jolly nach Berlin gekommen, um hier für seine neue Erfindung, das »Teufelsrad«, zu werben – unter anderem bei einem Empfang des Kronprinzen. Und hier lernt die Tochter eines Lokomotivführers aus Galizien den Berliner Willibald Felsing kennen und wechselt vom Teufelsrad ins Juweliergeschäft und damit auch ihren Lebenspartner. Als sie Onkel Willi das Jawort gibt, ist es bereits ihre dritte Eheschließung, denn Mr. McConnell war nicht ihr erster Mann. Das ist sogar in den Boulevardblättern nachzulesen; die Berliner Klatschpresse nimmt großen Anteil am Leben der »schönen Polin«, die bereits einen Sohn in ihre dritte Ehe einbringt.

      Da Jolly nur vierzehn Jahre älter ist als Marlene, sieht die sie nicht in erster Linie als Tante an, sondern mehr als Freundin. Jolly ist selbstbewusst, sie kleidet sich extravagant mit Zobelstolen und einem juwelenbesetzten Turban, und sie liebt teuren Schmuck, wovon Onkel Willi ja genug hat. Die Ketten und Ringe, die sie nicht selbst trägt, versetzt sie, um ihre Schulden zu begleichen. Ein Paradiesvogel – von Josephine von Losch mit Argwohn und Missbilligung betrachtet, von Marlene bewundert. Die Nichte ist wie elektrisiert, wenn Jolly von Hollywood erzählt oder ihr gar ein Glitzerkleid leiht. Vor allem bestärkt Tante Jolly sie darin, dass man auch ohne Abitur glanzvoll durchs Leben kommt.

      So verlässt sie schließlich das Gymnasium ohne Reifezeugnis. Ihre Mutter aber gibt sich immer noch nicht geschlagen. Sie bringt Marlene in einem Internat unter – einer Lehranstalt für »höhere Töchter« in Weimar, der Stadt Goethes. Die Achtzehnjährige fühlt sich wie im Gefängnis und hat obendrein auch noch Heimweh. Sie teilt sich ein schlichtes Zimmer mit fünf anderen Mädchen und fühlt sich trotzdem allein. Mag ihre Schwester ihr noch kurze Zeit zuvor auf die Nerven gegangen sein, jetzt fehlt Liesel ihr. Sie vermisst sie ganz furchtbar. »Liesel ist nicht bei mir, und alle, die ich so gern gehabt habe, haben mich vergessen«, notiert sie am 7. Oktober 1920.

      Die einzige Freude sind für sie die Geigenstunden bei ihrem Privatlehrer Professor Reitz. Sie übt täglich bis zu fünf Stunden und macht große Fortschritte. Und der Professor ist nicht nur von ihrem Geigenspiel fasziniert, sondern auch von den körperlichen Reizen seiner Schülerin. Wenn Marlene ihm in ihrem luftigen Chiffonkleidchen gegenübersitzt, vergräbt er mit nervösem Augenflackern seine Hände in den Rocktaschen, um seine hübsche Schülerin nur nicht zu berühren, streicht ihr dann aber doch in seiner heimlichen Erregung über Haar und Nacken. Marlenes Mutter, die alle drei Wochen kommt, um unter anderem ihrer Tochter die schönen Haare zu waschen, bleibt nicht verborgen, dass der Professor Leni gegenüber »merkwürdige Verhaltensweisen« an den Tag legt. Sie bittet daher die Direktorin, den Geigenlehrer auszutauschen. Doch die Schulleiterin beschränkt sich darauf, ein ernstes Wort mit dem Mann zu wechseln,