besser. Sie hatte sich Respekt verschafft, wie man so sagte. Von Kolleginnen beraten lassen, mit Eltern gesprochen und manche Störenfriede auch schon mal rigoros vor die Tür gesetzt. Nur noch einzelne Schüler tanzten ihr auf der Nase herum. Die meisten waren ihr zugetan. Besonders ihre Vierte. Manchmal kamen in der Pause sogar Erstklässler zu ihr und vertrauten ihr Geheimnisse an. Sie berührten sie mit ihren kleinen Händen, duzten sie, schmiegten sich an sie. Das war schön und lenkte sie von ihren eigenen Sorgen und Selbstzweifeln ab.
Ja, sie genoss es, endlich um ihrer selbst willen geachtet zu werden und nicht nur der Schatten oder gar Wachhund ihrer Schwester zu sein. Natürlich bewunderte sie Marlene immer noch, hörte ihr zu, wenn sie von ihren Eroberungen, ihren Schwärmereien erzählte, aber sie war jetzt viel zu sehr mit der Schule beschäftigt, um sich davon aufsaugen zu lassen. Sie hatte endlich so etwas wie ein eigenes Leben. Der Klassenzimmergeruch war ihr lieber als das teuerste Parfüm – dieser Duft von Kreide, Butterbroten und Kinderschweiß. Dass sie noch nicht wie die meisten anderen Frauen ihres Alters von einem Mann geliebt worden war, fand sie gar nicht so schlimm. Sie hatte ja ihre Bücher, ihre Fontane-Romane, ihre Shakespeare-Sonette, ihre Goethe-Gedichte. Und die Liebe, die darin besungen wurde, war viel schöner, viel erhabener als die Liebe im wirklichen Leben. Zum Beispiel Goethes »Willkommen und Abschied«:
Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht …
Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
4 Die Rolle ihres Lebens
Warten, warten, warten. Im Deutschen Theater in Berlin steht eine junge Frau allein auf einer Bühne und knetet nervös die Finger. Vorsprechen für die Schauspielschule Max Reinhardts, jenes berühmten Regisseurs, der das Theaterleben in der Hauptstadt prägt wie kein Zweiter. Eine geschlagene Stunde hat Marlene schon im tristen Vorraum auf ihren Auftritt gewartet; miterlebt, wie eine Mitbewerberin bedrückt zurückkam und kein Wort herausbrachte, als Marlene sie fragte, wie es gelaufen sei. Jetzt ist sie selbst gleich dran.
Im dunklen Zuschauerraum sitzen Herren, die sie nicht erkennen kann. Gesichtslose Silhouetten. Max Reinhardt ist nicht darunter. Der große Meister inszeniert gerade in Wien.
Auf der Bühne steht nur ein Stuhl. Aber das reicht. Marlene hat das Gretchen-Gebet aus Goethes Faust einstudiert. Am Abend zuvor noch hat sie die Szene Liesel vorgespielt, die den Monolog genauso auswendig konnte wie sie selbst. Liesel war begeistert gewesen. Aber jetzt kommt es darauf an, diese Schattenwesen im Parkett zu überzeugen.
»Bitte.«
Tief durchatmen und los.
Marlene setzt sich, starrt ins Scheinwerferlicht und versucht sich vorzustellen, dass sie in irgendeiner Mauerhöhle das Andachtsbild der Mater dolorosa vor sich hat.
Ach neige, du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not …
Sie spürt, dass sich ihr Herzklopfen legt, steigert sich mehr und mehr in ihren Text, kniet nieder.
Wer fühlet,
Wie wühlet
Der Schmerz mir im Gebein?
Tagelang hat sie kaum an etwas anderes denken können, alles getan, um diese Chance nicht zu vermasseln. Denn die Schauspielschule Max Reinhardts gilt als Tor zu den besten Theatern Deutschlands, und nicht alle Bewerberinnen werden zum Vorsprechen eingeladen. Nein, bei weitem nicht.
Die Schauspielerin als junge Frau.
Marlene war froh, die Schule endlich hinter sich gelassen zu haben. Bis zum Abitur war sie auch in Weimar nicht gekommen. Aber wozu brauchte der Mensch Abitur? Sie sah sich als Künstlerin. Eigentlich wollte sie ja Konzertgeigerin werden, aber nach dem Vorfall mit dem Geigenlehrer war ihr die Lust am Geigenspielen abhandengekommen. Die Leichtigkeit, mit der sie bisher den Bogen gestrichen hatte, fehlte plötzlich. Und so war sie von der Musikakademie abgelehnt worden. Aber sie sah keinen Grund, sich darüber zu grämen. Schon lange hatte sie davon geträumt, Schauspielerin zu werden. So wie Henny Porten, ihr Idol. Ihre Mutter war entsetzt gewesen, als sie ihr von ihren Plänen berichtet hatte. Das alte Lamento von den brotlosen Künsten. Pah! Sie würde schon noch beweisen, dass man auch mit der Schauspielerei Geld verdienen konnte. Aber jetzt erst einmal diese Aufnahmeprüfung.
Sie rutscht auf ihren Knien hin und her, legt Schmerz und Verzweiflung in ihre Worte, fleht voller Inbrunst das imaginäre Bild der Madonna vor ihrem inneren Auge an:
Hilf! Rette mich von Schmach und Tod!
Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!
Geschafft! Jetzt müsste eigentlich der Applaus einsetzen. Zumindest ein paar lobende Worte wären schön. Aber es bleibt einige schreckliche Sekunden lang still. Was folgt, dringt nur bruchstückhaft zu ihr vor, wie von weit her. Später sollte sich die Szene zu einer Anekdote mit ganz unterschiedlichen Szenen entwickeln. Aus dem dunklen Zuschauerraum soll eine Geisterstimme gerufen haben: »Fräulein Dietrich, heben Sie Ihren Rock. Wir wollen Ihre Beine sehen. Heben Sie Ihren Rock.«
Aber das ist nicht verbürgt. Sicher ist, dass Marlene abgelehnt wurde. Ihr Vortrag, heißt es, sei zu schwülstig gewesen. Sie habe zu dick aufgetragen. Niemand erwarte von einer Schauspielerin, dass sie Tränen vergieße, wurde ihr gesagt. Entscheidend sei es, das Publikum zum Weinen zu bringen.
Doch Marlene ließ sich nicht entmutigen. Sie nahm – angespornt und gefördert von Onkel Willi – privaten Schauspielunterricht, übte sich im Singen, Geigenspielen und Tanzen und sprach weiter vor. Mit Erfolg. Sie wurde engagiert: als Nummerngirl, als Statistin, für Nebenrollen im Theater. Sogar in einer Inszenierung von Max Reinhardt durfte sie mitspielen. In der Shakespeare-Komödie Der Widerspenstigen Zähmung trat sie als Witwe auf – eine winzige Rolle, aber im Großen Schauspielhaus vor dreitausend Zuschauern. Sie fiedelte, sang und tanzte. Manchmal absolvierte sie an einem Abend gleich zwei Auftritte hintereinander. Nachdem sie mit ihrer Tanztruppe ihre langen Beine geschwungen hatte, streifte sie ihr Glitzerkostüm ab und schlüpfte in das Gewand einer Zofe.
An Auftrittsmöglichkeiten fehlte es im Berlin der zwanziger Jahre nicht. Die Stadt vibrierte vor Kreativität, sprühte vor lange unterdrückter Lebensfreude. Operetten und Revuetheater, Kabaretts und Schauspielhäuser wetteiferten um die Gunst eines vergnügungshungrigen, aber nicht anspruchslosen Publikums. Und fast alles war erlaubt. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs, Geldentwertung und Wirtschaftskrise hatten die strenge wilhelminische Moral aufgeweicht, Tabus hinweggefegt und Raum für eine scheinbar unbegrenzte Freiheit geschaffen, die der Kunst ideale Entfaltungsmöglichkeiten eröffnete. Männer stiegen in Frauenkleider und präsentierten sich kichernd mit prallen Kunststoffbrüsten, Frauen sangen Hymnen auf die gleichgeschlechtliche Liebe, und alte Autoritäten wurden zu Lachnummern – egal ob Bischof oder General. Marlene schlüpfte von einer Rolle in die andere. Dabei entwickelte sie großes Geschick darin, ihre Kostüme meist stillschweigend zu ihrem Privateigentum zu machen. Sie nahm, was sie kriegen konnte: Kleider, alle Arten von Handschuhen, Schals, Schuhe, Boas, Handtaschen und vor allem Hüte – Hüte mit Federn, Hüte mit Kunstblumen, Hüte mit Seidenbändern. Dies hatte den Vorteil, dass sie bei Vorsprechterminen und manchen Engagements ihre Garderobe gleich mitbringen konnte.
Bald stand sie auch in kleinen Rollen vor der Kamera. Filme hatten Konjunktur. Kinos und Filmgesellschaften schossen wie Pilze aus dem Boden. Leerstehende Lagerhäuser verwandelten sich in Traumfabriken. Besonders Bauten mit Glasdächern waren gefragt, denn Sonnenstrahlen waren besser – und billiger – als Scheinwerfer. Da noch ohne Ton gearbeitet wurde, konnten in einer Halle dicht nebeneinander