Rudolf Dr. Kreutzer

Denken neu denken


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      Die meisten Missverständnisse beim Versuch, systemisch zu denken, bestehen darin, dass das zu betrachtende System (wie z.B. Partnerschaft, Familie, Gemeinde, Unternehmen, Wirtschaft, Finanzsystem, Erdklima) als ein aus Einzelteilen zusammengesetztes Gesamtwerk gesehen wird (ähnlich wie ein Uhrwerk aus Zahnrädern). Man meint, dass man die Einzelteile des Systems und ihre Wirkungen aufeinander analysieren müsse und dass man auf diese Weise systemisch denken würde. Das ist zu wenig.

      Man kann das systemische Denken wie folgt charakterisieren:

      - Es ist ein weitstirniges Denken (i. Ggs. zum engstirnigen Denken, das auf bestimmte Arten von Gedanken fokussiert, wie z.B.: Logik, Ratio, Analyse, Kausalität, Strategie, Politik, Egoismus, Optimismus, Opportunismus, Aktionismus, Fundamentalismus, u.v.a.m.). Es versucht zudem, alle Einflüsse im Zaum zu halten, die den geistigen Horizont einengen, wie z.B. Ideologien, Zeitgeist, Angst, Vorurteil.

      - Es ist ein fächerübergreifendes Denken (i. Ggs. zu den alten fachspezifischen Denkarten, wie z.B.: kaufmännisches, politisches, juristisches oder naturwissenschaftliches Denken).

      - Es zielt darauf ab, das Wesentliche eines Systems zu verstehen (wie z.B.: Art, Struktur, Paradigmen, Tabus, Stärken und Schwächen, Sinn) und weniger auf die Auffälligkeiten zu achten (wie z. B. Aussehen, Titulierungen, Größe, Kosten).

      - Es reflektiert mehr die größeren Zusammenhänge (wie z.B.: das übergeordnete System, Wechsel- und Fernwirkungen, Vulnerabilitäten, Resilienzen, Nachhaltigkeit) und befasst sich nicht nur mit den Details (wie z.B.: Systemelemente, Daten, Informationen, Methoden, Prozesse).

      - Es achtet mehr auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten (Trends, Impulse, Umbrüche, Langzeitwirkungen, Perspektiven) als auf die Fortschreibung des gegenwärtigen Zustands (Sicherheit, Stabilität, Berechenbarkeit, Norm, Tradition).

      - Es macht Freude (Überraschungen, Witz, Aha-Effekte, Begeisterung, Zuversicht u.v.a.m.), anstatt quälend zu sein.

      - Es ist eine Vorstufe zu einem globalen Denken "Think global, act local". Es ist die – bislang vielerorts fehlende – geistige Voraussetzung dafür, dass eine Welt ohne Grenzen, Kriege, Folter, Hunger, Armut und Unterdrückung geschaffen werden kann.

      - Es hat den Sinn, dass wir nicht nur die technologische Entwicklung und die künstliche Intelligenz vorantreiben (was der Menschheit in den letzten 100 Jahren in phantastischer Weise gelungen ist!), sondern dass wir auch die menschliche Intelligenz weiterentwickeln. Das gilt zunächst einmal für unsere Konfliktlösefähigkeit, Kreativität, Weitblick, Weisheit, Menschenbild, Weltanschauung.

      - Darüber hinaus soll das systemische Denken dazu anregen, neue geistige Fähigkeiten zu entwickeln, die heute unterschätzt oder noch völlig unbekannt sind.

      Man könnte die Arbeit im Zentrum für Systemisches Denken auch so beschreiben: wir beschäftigten uns mit einem Denken, wie es schon vor langer Zeit erfolgreich angewendet worden ist, wie z.B. von Konfuzius, Aristoteles, Leonardo da Vinci, Johann Wolfgang von Goethe, Alexander von Humboldt. Es war uns klar, dass man kein Genie von Weltrang sein muss, um systemisch zu denken. Schließlich wird es auch heute von manchen Menschen tagtäglich ausgeübt, ohne dass es ihnen bewusst ist und ohne dass sie darüber reden oder Bücher schreiben. Dazu gehören beispielsweise eine alleinerziehende Mutter, die ihren Kindern eine glückliche Kindheit ermöglicht, oder Lehrer und Lehrerinnen, die ihren Schülern Freude am Lernen vermitteln.

      Ob nun speziell dieses systemische Denken unsere Erwartungen und den Bedarf der Gesellschaft nach einem grundsätzlich neuem Denken erfüllt, das muss ausprobiert und erforscht werden. Das braucht Zeit. Auf jeden Fall ist es notwendig, dass wir uns die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wie wir ansonsten neu denken könnten. Das soll auch mit diesem Buch geschehen.

      Der Verhaltenswissenschaftler, Psychologe und Theologe Bojan Godina hat, zusammen mit 11 anderen Autoren, dem systemischen Denken noch ein weiteres Attribut hinzugefügt, nämlich das „finale Denken“6. Damit meinen sie ein „Denken vom Ende her“ anstelle einer gegenwartsbezogenen und nicht nachhaltigen Sichtweise. Die von ihm beschriebene „Systemisch finale Intelligenz“7 soll als Bindeglied zwischen dem traditionellen Intelligenzkonzept und der psychologischen Weisheitsforschung wirken.

      Seine Definition von Weisheit umfasst auch Aspekte der Spiritualität, Religiosität und einer moralischen Werteorientierung. Letztere soll die Menschen unterschiedlicher Religionen befähigen, einander zu tolerieren. Er fordert die Intelligenzforscher auf, universal minimale moralische Strukturen zu schaffen. Sie sind notwendig, um die immer komplexer werdenden Probleme der Neuzeit (Klimawandel, Radikalismus, Flüchtlingskrise, Cyberkriminalität, etc.) leichter lösen zu können.

      4 http://www.zentrum-systemisches-denken.de/

      5 https://www.beltz.de/fileadmin/beltz/leseproben/978-3-407-29490-6.pdf, https://www.dgsf.org/, https://systemische-gesellschaft.de/, http://www.wuerzburger-institut.de/index.php?article_id=2

      6 Beispiel: Schadstoffe, wie z.B. Plastikmüll, sollen am Ende ihres Lebenszyklus nicht entsorgt werden, sondern sie sollen gar nicht erst hergestellt werden.

      7 Bojan Godina, “Systemisch finale Intelligenz”, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018, ISBN 978-3-658-20580-5, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20581-2

      ERSTE ERFAHRUNGEN MIT DEM THEMA „NEU DENKEN“

      LITERATUR ÜBER „NEU DENKEN“

      Das Bestreben „neu“ zu denken ist einerseits uralt, anderseits aber auch neuzeitlich und hoch aktuell. Es ist insofern uralt, als der Mensch seit Adam und Eva die Erfahrung macht, dass sein Denken nicht immer den Erfolg hat, den er sich wünscht. Er hat gelernt, dass er dann noch einmal denken muss oder noch gründlicher denken muss. Dafür hatte er seit jeher mehrere Möglichkeiten, um zu besseren Ergebnissen zu kommen. Er konnte und musste nachdenken, bedenken, überdenken, umdenken, weiter- oder querdenken. Eine viel geübte Praxis war auch „eine Nacht darüber schlafen“, so dass man am nächsten Tag ein frisches Gedankengut erwarten konnte. Weitere Möglichkeiten waren z.B., andere Personen (die Alten, den Schamanen, das Orakel) um Rat zu fragen, Bücher zu lesen, zu meditieren oder in Klausur zu gehen. Manchmal war sogar das Abwarten und Nichtdenken hilfreich, manchmal aber auch tödlich.

      Es gibt inzwischen viele Bücher über neues Denken, wie z.B. „Sonst knallt´s!: Warum wir Wirtschaft und Politik radikal neu denken müssen“ von Götz Werner, Matthias Weik und Marc Friedrich8.

      Das Thema „neu denken“ ist seit einigen Jahren insofern neu, weil die beiden Worte „neu“ und „denken“ auch ausdrücklich und unmittelbar miteinander verknüpft werden. Diese Verknüpfung gewinnt derzeit zunehmend an Bedeutung. Sie erreicht stellenweise die Geltung eines Heilsversprechens, wie z.B. „Neu denken - neu leben“ von Burkard Riedel9 oder „neu denken, neu leben“ von Robert Betz10.

      Ähnlich vielversprechend wird in dem Buch „Denken Sie neu – Mentales Überlebenstraining in der digitalen Welt“11 beschrieben, wie man sein Gehirn trainieren kann, um bessere Gedächtnisleistungen zu erreichen. Der Autor Markus Hofmann, ein Gedächtnisexperte, motiviert den Leser auf eine erfrischende Weise, seine mentale Fitness mit Hilfe von modernen elektronischen Medien zu verbessern. Damit wird aber nur die Art und Weise, wie man sich an etwas erinnert oder wie man sich etwas besser merken kann, erneuert. Die grundlegende Art, wie man denkt, ändert sich allerdings nicht. Sie bleibt alt.

      Ganz allgemein geht jeder, der heute über „neu denken“ spricht, unausgesprochen davon aus, dass sich die Mehrheit oder die Umgebung noch im Zustand „alt denken“ befinden. Und dieser Zustand wird als nicht gut genug erachtet. Fast immer wird mit dem Adjektiv „neu“ pauschal eine positive Wertung verbunden im Sinne von „besser“, „intelligenter“ oder „zukunftsweisend“. Dabei wird übersehen, dass das „neue“ Denken nicht zwangsläufig besser ist, sondern dass es oft nur ein „anderes“ Denken ist. Es kann sogar schlechter sein als das „alte“