Susanne Gantner

Ein Gloria zum Sterben


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      «Wann war das?», fragte der Ermittler. «Ich muss das genau wissen».

      «Ich hörte die Kirchenuhr einmal schlagen, als ich den Schlüssel drehte.»

      «Also 22.15 Uhr. Wer ausser Ihnen hat einen Schlüssel für die Kirche?»

      «Nur der Organist und ich. Ein Ersatzschlüssel ist beim Diakon* deponiert.»

      «Okay, Sie haben mir sehr geholfen. Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an.» Stampfli notierte die Adresse des Sakristans und gab ihm seine Visitenkarte.

      In diesem Moment hielt eine Vespa vor der Kirchentür. Darauf sass Pierre Delafontaine, alias Bonsai, Stampflis jüngster Mitarbeiter. Den Spitznamen hatte er bekommen, weil er nur das Mindestmass von 1.70 m für Polizisten erreichte und stets vornübergebeugt dastand. Er war ein cleveres, liebenswertes Bürschchen, hatte die Polizeischule mit Auszeichnung abgeschlossen und seither alle Dienstgrade bis zum Wachtmeister in Rekordzeit absolviert.

      «Wo hast du denn gesteckt?»

      «Weisst du doch.» Bonsai zog den Helm vom Kopf. «Ich war noch mit der Abklärung wegen der Schlägerei im Seefeld in der Uniklinik beschäftigt.»

      «Ach ja. Hat sich schon etwas ergeben?»

      «Leider nein. Ich schreibe dir nachher einen Bericht. Was ist hier geschehen?»

      «Ein Mitglied des Kirchenchors wurde gestern erstochen. Üble Sache. Der Sakristan, ein Herr Franz Müller, hat die Tote gefunden, aber nichts beobachtet. Wir müssen als Erstes mit dem Diakon sprechen. Er ist laut meinem Handy für diese Kirche zuständig und dürfte im Pfarrhaus nebenan wohnen. Ein Wunder, dass er von den ganzen Aktivitäten nichts mitbekommen hat. Das Gebäude ist wohl hier rechts.»

      Ein Plattenweg führte bis zu einem modernen Einfamilienhaus. Es war noch kein Schnee gefallen, der Rasen wies braune Stellen auf. An der Tür hing ein dekoratives Adventsgesteck. Ein umgekipptes Dreirad lag achtlos da. Kaum hatte Stampfli die Klingel gedrückt, erklang Kindergeschrei. Kurz darauf öffnete eine hochschwangere Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm.

      «Ja?»

      «Guten Tag. Mein Name ist Heiri Stampfli, ich bin von der Kantonspolizei. Das ist mein Mitarbeiter Delafontaine. Wir suchen den Diakon Georg Amstutz, der für die St. Fabian Kirche zuständig ist.»

      «Der Diakon ist mein Mann. Leider ist er den ganzen Tag an einer Besprechung und kommt erst in etwa zwei Stunden zurück. Wieso sind Sie hier? Ist etwas passiert?» Erst jetzt schien die Frau die Absperrbänder und die Polizisten vor der Kirche zu bemerken.

      «Das ist so», bestätigte Stampfli. «Ein Mitglied des Kirchenchores wurde gestern nach der Probe ermordet. Wir müssen dringend mit Ihrem Mann sprechen.»

      Die Frau erbleichte. «In diesem Fall kann ich ihn sicher kurz stören. Ich werde ihn anrufen. Bitte kommen Sie doch herein.»

      Stampfli und Bonsai betraten das Haus. Links vom Eingang lagen Kinderschuhe und Spielsachen herum. Sie kamen in das geräumige Wohnzimmer. Auch hier herrschte ein Chaos. Frau Amstutz steckte das Kleinkind in ein Laufgitter, worauf dieses wieder zu brüllen begann.

      «Haben Sie noch mehr Kinder?»

      «Ja, noch drei weitere, und das Fünfte ist unterwegs, wie Sie sehen.» Sie packte ihr Handy, um ihren Mann anrufen, wobei sie sich wegen des Lärms in die Küche zurückzog.

      «Ein katholischer Priester mit grosser Familie?», flüsterte Stampfli.

      «Er ist ein „Ständiger Diakon“*. In diesem Fall darf er verheiratet sein und Kinder haben», sagte Bonsai leise. Er kannte sich in solchen Sachen aus.

      Frau Amstutz kam zurück und hob ihr Kind hoch, worauf sein Schreien endlich verstummte.

      «Mein Mann wird in einer halben Stunde da sein und bittet Sie, auf ihn zu warten.»

      «Okay. Wir sind in der Kirche. Vielleicht werden wir da noch gebraucht.»

      «Ich richte ihm das so aus. Bis später.»

      Draussen atmeten die Ermittler erleichtert auf. «Pfft, die hat es vielleicht schwer», sagte Bonsai und zog eine Toblerone* aus der Tasche. «Ich habe noch nichts gegessen», meinte er entschuldigend, als Stampfli belustigt den Mund verzog.

      «Ich weiss doch, dass du ohne Schokolade nicht leben kannst». Bonsai ernährte sich fast ausschliesslich von diesen Genussstengeln.

      Sie gingen zur Kirche zurück, warteten aber draussen. Der Brandtouroffizier Alex Stammbach kam auf sie zu.

      «Hast du etwas, Alex?»

      «Nein. Es gibt so viele verschiedene Fingerabdrücke und Spuren, dass es zum Verzweifeln ist. Unsere Forensiker geben ihr Bestes. Aber wenn an der Leiche selbst nichts gefunden wird, tappen wir im Dunkeln. Gestern waren 21 Kirchenchormitglieder, ein Organist und ein Chorleiter bei der Probe anwesend, wenn niemand gefehlt hat. Diese Leute müssen nach Möglichkeit noch heute Abend befragt werden. Bitte klärt ab, ob entweder das Kirchgemeindehaus oder das Pfarrhaus zur Verfügung steht.»

      «Das Pfarrhaus kommt nicht in Frage», meinte Stampfli entschieden.

      «Warum?»

      «Zu viele plärrende Kinder!»

      «Oh. Dann im Kirchgemeindehaus.»

      «Das werde ich abklären, sobald der Diakon von seiner Sitzung zurück ist.»

      Eine weitere Gestalt in weissem Overall und Handschuhen trat aus der Kirchentür. Stampfli erkannte den blasierten Staatsanwalt Dr. Reinhard Merian auf den ersten Blick nicht. Er trat sonst immer im Massanzug auf. Sie waren sich spinnefeind.

      «Stampfli», wetterte Merian schon los. «Die Sache ist brandheiss: ein Mord in einer katholischen Kirche. Die Presse wird uns fertigmachen, wenn wir nicht unverzüglich Resultate vorzeigen können. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie alles unternehmen, um diesen Fall so schnell wie möglich aufzuklären.»

      «Ich werde mir Mühe geben, Herr Dr. Merian.»

      «Mühe geben reicht nicht», murmelte der Staatsanwalt leise, aber vernehmlich. Er fuhr laut fort: «Und sagen Sie Ihrem Mitarbeiter, er soll den Tatort nicht mit seiner widerlichen Schokolade verunreinigen. Er hat in der Kantine zu essen, wie sich das gehört.»

      Bonsai konnte ein Grinsen nicht verkneifen, was der Staatsanwalt aber nicht mehr sah. Er war wieder in der Kirche verschwunden.

      Stampfli und sein Mitarbeiter mussten noch einige Minuten warten, bis der Diakon auftauchte, ein gutaussehender Mann mit schütteren, braunen Locken und blitzenden, dunkelblauen Augen. Er hatte sich offenbar beeilt, denn er war ausser Atem.

      «Ich bin Georg Amstutz. Sie wollten mich sprechen?» Der Geistliche hatte eine tiefe, sympathische Stimme. «Meine Frau hat mich angerufen. Jemand ist in unserer Kirche ermordet worden? Ist das wahr? Wer ist es?»

      «Leider müssen wir davon ausgehen», bestätigte der Ermittler. «Ich bin Heiri Stampfli von der Kantonspolizei und das ist Pierre Delafontaine. Es handelt sich um Melanie Hug. Sie wurde mit einem Messer erstochen.»

      «Was, Frau Hug, die unbeliebte Archivarin?»

      «Die Frau war nicht beliebt?»

      «Ja, das kann man wohl sagen», bestätigte der Diakon. «Entschuldigung, ich kenne Ihren Dienstgrad nicht, Herr Stampfli. Wie muss ich Sie ansprechen?»

      Der Ermittler lachte nur. «Ich bin Feldweibel* mit besonderen Aufgaben wie Herr Delafontaine auch. Aber das spielt keine Rolle. Wir bei der Kantonspolizei pflegen einander nicht mit Dienstgraden anzusprechen. Wir tragen ja auch zivile Kleidung. Waren Sie gestern bei der Kirchenchorprobe dabei?»

      «Nein, ich singe nicht selbst mit, obwohl ich mit dem Chor stark verbunden bin und an wichtigen Anlässen teilnehme. Gestern Abend war ich zu Hause und habe gearbeitet. Nach der Probe hat mich unser Gemeindearbeiter Gabriel Winiger noch aufgesucht, um etwas zu besprechen.»

      «Herr Amstutz, wir haben eine undankbare