Ehe von Sonja Winter mit Patrick ist nicht sehr glücklich. Obwohl sie noch viel für ihren ständig arbeitenden Ehemann empfindet, sucht sie sich anderweitig Unterhaltung und vernachlässigt dabei auch ihre Tochter Iris. Die 14-jährige leidet sehr unter dem Zerwürfnis der Eltern und entwickelt Magersucht. Dann geht Sonja mit einem anderen Mann auf große Reise, und Iris bleibt im Krankenhaus zurück, während Patrick nicht weiß, wie er sich verhalten soll. Gibt es für die drei eine Zukunft?
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
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© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
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Prolog
Mit reservierter Miene sah Patrick Winter seinen Hausarzt an. „Sie wollten mich sprechen, Dr. Kayser.“
„ Ja.“ Der Grünwalder Arzt nickte. „Es geht um Ihre Tochter. Sie macht mir die größten Sorgen. Ihre Magersucht ist meiner Meinung nach nur noch in einer Klinik zu heilen – wenn überhaupt.“
„Was soll das heißen?“ Angst schwang auf einmal in Patricks Stimme mit.
„Ich will und muss Ihnen die ganze Wahrheit sagen“, erklärte Sven Kayser. „Iris schwebt in Lebensgefahr. Ihre Magersucht hat seelische Ursachen. Das Kind leidet entsetzlich. Und jetzt, Herr Winter, will ich von Ihnen wissen: Warum?“
1
„Mir laust der Affe“, staunte Schwester Gudrun. „Oma Clara! Seh’ ick richtig?“
„Ja, Sie sehen richtig, Schwester“, antwortete die füllige Frau, die soeben zur Tür hereingekommen war, griesgrämig. „Ich bin es wirklich. Sie haben keinen Geist vor sich.“
Oma Clara – Clara Griesmayer war ihr vollständiger Name – trug ein einfaches dunkelgraues Kleid und ein altes verwaschenes Kopftuch. Für Kleidung hatte sie noch nie viel Geld ausgegeben. Was sie sich ersparen konnte, bekamen ihre zahlreichen Enkelkinder, über die sie ihre Liebe mit dem Gießkannenprinzip verteilte. Sie war eine sehr gerechte Frau, aber sie war auch eine sehr eigenwillige Person, die sich nur ungern etwas sagen ließ.
„Wat führt Se denn zu uns?“, fragte Gudrun Giesecke, die Perle von der Spree, die nur dann ihren Berliner Dialekt vergaß, wenn sie sich ärgerte.
„Niemand führt mich, das sehen Sie doch“, erwiderte Oma Clara. Fünfundsechzig war sie letzten Monat geworden, aber sie sah älter aus – abgearbeitet. Sie wusste es, wollte es jedoch von niemandem hören. „Ich brauche keine Hilfe. Ich bin noch sehr gut auf den Beinen.“
„Und wat verschafft uns dann die Ehre Ihres geschätzten Besuches?“, erkundigte sich die grauhaarige Arzthelferin vergnügt.
„Ottokar, mein Mann, verschafft euch die Ehre“, grollte Oma Clara. Sie war in der Grünwalder Arztpraxis bestens bekannt, aber nicht als Patientin. In dieser Rolle trat sie nur alle Jubeljahre mal auf, denn sie vertrat den Standpunkt, dass sie keinen Doktor brauche. „Wenn nur die zum Arzt gehen würden, die es wirklich nötig haben, wären die Wartezimmer stets so gut wie leer“, pflegte sie zu sagen. „Die Hälfte aller Patienten sind Simulanten und eingebildete Kranke.“
Was Oma Clara zu wenig zum Arzt ging, ging ihr Mann zu viel, und da sie ihn oft zu Dr. Kayser begleitete, war sie hier ebenso gut bekannt wie Ottokar Griesmayer.
„Warum schickt Ihr juter Mann Se zu uns?“, erkundigte sich Schwester Gudrun vorsichtig.
„Husten tu’ ich ihm zu viel“, brummte die Patientin verdrossen. „Ich krieg’ das schon wieder hin, hab’ ich ihm gesagt, aber er hat darauf bestanden, dass ich mich von Dr. Kayser untersuchen lasse.“
„Freut mia, dat Ihr Mann sich mal bei Ihnen durchjesetzt hat“, meinte Schwester Gudrun schmunzelnd. „Det kommt ja wohl nicht allzu oft vor, wa?“
„Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier soll.“ Oma Clara unterdrückte ein Husten.
„Dr. Kayser wird sich jenau wie ick freuen, Sie zu sehen.“
„Ja, mag sein“, brummte Oma Clara. Und als sie kurz darauf Dr. Sven Kaysers Sprechzimmer betrat, sagte sie sofort, um alle Missverständnisse auszuräumen: „Ich bin nicht aus freien Stücken hier, das möchte ich vorausschicken.“
„Ich nehm’s zur Kenntnis“, entgegnete Sven Kayser schmunzelnd. Er wies auf den Patientenstuhl. „Würden Sie sich setzen, Oma Clara, wo Sie schon mal hier sind, und mir sagen, was Ihnen fehlt?“
Frau Griesmayer ließ sich auf den Stuhl sinken. „Nichts fehlt mir. Mein Mann ist ein Spinner. Und ein Hypochonder. Anscheinend genügt er sich selbst nicht mehr, deshalb fängt er nun an, seine Hypochondrie auf mich zu übertragen.“
„Was gibt ihm Anlass, sich um Sie Sorgen zu machen?“
Oma Clara winkte ab. „Ich huste ein bisschen.“
„Seit wann?“, erkundigte sich Dr. Kayser, der die kauzige Frau seit Langem ins Herz geschlossen hatte.
„Seit drei Wochen. Ich hab’ mich in der Waschküche erkältet.“
„Erlauben Sie, dass ich Sie untersuche?“, fragte Sven Kayser.
„Deswegen bin ich hier, aber das eine sage ich Ihnen gleich: Ich habe nichts gegen Sie. Sie sind ein lieber, sympathischer Mensch. Doch was immer Sie mir verschreiben: