A. F. Morland

Arztroman Sammelband: Drei Romane: Ihre Verzweiflung war groß und andere Romane


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      Sonja wiegte den Kopf. „Sie ist in letzter Zeit ein bisschen dünn geworden.“

      „Ist sie krank?“, fragte Frau Dietrich sofort besorgt.

      „Nein. Sie hat bloß keinen Appetit“, antwortete Sonja Winter.

      „Vielleicht solltest du mit ihr mal zu Dr. Kayser gehen.“

      Sonja schüttelte den Kopf. „Ach was, das wird schon wieder. Man darf so etwas nicht überbewerten.“

      „Man sollte es aber auch nicht ignorieren. Iris’ Appetitlosigkeit muss eine Ursache haben!“

      „Jedes Kind isst mal mehr, mal weniger“, sagte Sonja unbekümmert. „Das ist kein Grund, sich gleich Sorgen zu machen und den Arzt aufzusuchen.“ Sie schaute auf ihre Armbanduhr aus Platin. Ein Geschenk von Patrick. Er war sehr großzügig, und immer waren sie ja nicht wie Hund und Katze zueinander. Aber leider immer öfter. „Ich muss gehen, Mama.“

      „Ich hab’ dir noch nicht mal etwas angeboten“, sagte Frau Dietrich schuldbewusst.

      „Das macht nichts“, erwiderte Sonja lächelnd. „Ich bin weder hungrig noch durstig.“ Sie legte ihrer Mutter die Hand auf den Arm. „Leider bin ich nicht in München, wenn du operiert wirst. Wir sehen uns hinterher. Ich wünsch’ dir alles Gute, obwohl es beinahe überflüssig ist, dehn die Seeberg-Klinik genießt den allerbesten Ruf.“

      4

      Sonja Winter fuhr auf dem Heimweg bei den Kaspareks vorbei, und Jasmin schlug vor Freude Purzelbäume, als sie erfuhr, dass Iris bei ihr schlafen durfte – und gleich mehrere Nächte!

      Als Sonja wieder in ihrem roten Sportwagen saß, fiel ihr ihre Mutter ein. Sie ist mit meinem Lebenswandel nicht einverstanden, dachte sie. Sie hat zwar kein Wort gesagt, aber ich hab’s ihr angesehen. Ich weiß, wie sie über mich und über meine Ehe denkt. Ein Blick in ihre traurigen Augen genügt.

      „Denkst du vielleicht, ich bin happy?“, sagte sie laut vor sich hin, während sie aggressiv startete. „Ich würde viel lieber eine gute, harmonische Ehe führen, mit einem Mann, der mich versteht, der auf meine Bedürfnisse eingeht, der Zeit für mich hat. Aber Patrick ist ja die Jagd nach dem verfluchten Geld viel wichtiger als alles andere.“

      Sie fuhr los, ohne in den Spiegel zu sehen. Ein Wagen bremste scharf ab, der Fahrer drückte wütend auf die Hupe. „Ja, ja, schon gut“, rief Sonja. „Reg dich ab. Jeder macht mal einen Fehler. Du etwa nicht?“

      Sie fuhr nach Hause. Das große Haus war deprimierend leer. Nur Iris war daheim. Anderen Vierzehnjährigen wuchs schon der Busen. Iris nicht. Sie sah aus wie eine Zwölfjährige, war flach, dünn und blass. Sie hatte noch nicht einmal mit ihrem Zyklus angefangen.

      Sonja fand sie in ihrem Zimmer. Iris lag auf dem Bett und las. „Warum gehst du nicht raus?“, fragte ihre Mutter.

      „Was soll ich draußen?“, gab Iris gelangweilt zurück.

      „Der Mensch braucht Licht und Luft. Ist ja kein Wunder, wenn du an Appetitlosigkeit leidest, wenn du dich immer in deinem Zimmer vergräbst. Du solltest dich im Freien bewegen, damit du mehr Sauerstoff in die Lungen bekommst.“

      „Hab’ keine Lust dazu“, murmelte Iris.

      „Keine Lust, keine Lust. Zu nichts hast du Lust. Als ich in deinem Alter war ...“

      „... hattest du schon den zweiten Freund.“ Iris gähnte.

      „Jawohl.“

      „Muss ich deshalb auch Jungs mögen?“, fragte das Mädchen gedehnt.

      „Na ja, es ist die natürlichste Sache von der Welt.“

      „Vielleicht will ich nicht so werden wie du“, meinte Iris.

      Es blitzte gefährlich in Sonja Winters Augen. „Werd’ bloß nicht frech, sonst setzt es was! Du weißt, wie leicht mir die Hand ausrutscht, wenn man mich ärgert.“

      „Entschuldige“, sagte Iris monoton.

      „Ich werde für einige Tage verreisen.“

      „Wohin?“

      „Nur nach Kaprun.“

      „Muss ich mitkommen?“

      „Nein, du brauchst nicht mitzukommen.“

      Iris setzte sich auf. Sie trug bunte Leggings und ein überweites weißes T-Shirt. „Soll ich unser Haus allein hüten?“

      „Du wirst zu den Kaspareks gehen.“ Iris’ Züge hellten sich auf. „Hast du schon mit Ihnen gesprochen?“

      „Ich komme gerade von ihnen. Jasmin freut sich schon sehr auf dich. Ihr stellt Herrn und Frau Kasparek hoffentlich nicht das Haus auf den Kopf. Ich erwarte von dir, dass du dich anständig und gesittet benimmst. Sonst warst du zweimal bei der Familie Kasparek: das erste und das letzte Mal.“

      Unten läutete das Telefon. Sonja verließ das Zimmer ihrer Tochter und eilte ins Erdgeschoss. Im luxuriös ausgestatteten Wohnzimmer stand ein weißer Nostalgie-Apparat.

      Sonja nahm den Hörer ab. „Hallo!“

      „Sonja?“

      Die Stimme ließ sie schmelzen. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Wer denn sonst?“, sagte sie mit verführerischem Timbre.

      „Nimmt deine Mutter Iris?“, erkundigte sich der Mann am anderen Ende der Leitung. Joachim Aiger war sein Name, und er hatte ebenso viel Geld wie Patrick. Teils geerbt, teils dazuverdient –

      mit seinen beiden Fabriken. Im Unterschied zu Patrick versuchte er allerdings nicht, alles selbst zu machen, sondern ließ sich von tüchtigen Direktoren unterstützen.

      „Nein“, antwortete Sonja, „denn sie muss am Knie operiert werden.“

      Pause. Dann ein enttäuschtes: „Oh. Dann fällt Unser Kurzurlaub nach Kaprun also ins Wasser.“

      Sonja lachte. „Wer sagt denn so etwas? Ich habe Iris bei Bekannten untergebracht. Unserer Reise nach Österreich steht somit nichts mehr im Wege.“

      „Na, das ist ein Wort“, rief Joachim Aiger erfreut aus. Er war ebenfalls ein Clubkamerad von Sonja und ein gerade zu besessener Sportflieger. „Ich lass noch heute eine Suite für uns reservieren.“

      Ihre Stimme wurde dunkel. „Und ich muss mir noch ein hübsches Nachthemd kaufen.“

      „Für mich?“, fragte der Mann begeistert.

      „Schließlich möchte ich dir doch gefallen’’, sagte Sonja.

      „Das tust du sowieso. Auch ohne Nachthemd.“

      Sonja lachte hell auf. „Das glaube ich dir.“ Sie legte auf und drehte sich um. Iris stand in der Tür und sah sie mit stummem Vorwurf an.

      „Man hört nicht zu, wenn andere telefonieren!“, herrschte sie ihre Tochter an.

      „Ich hab’ nicht zugehört“ entgegnete Iris.

      Sonjas Augen blickten streng. „Wie lange stehst du schon hier?“

      „Eine