A. F. Morland

Arztroman Sammelband: Drei Romane: Ihre Verzweiflung war groß und andere Romane


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kommst du denn auf die Idee? Wer sollte dich denn anrufen?“

      Iris wiederholte das Schulterzucken. „Vati. Oder Oma. Oder Jasmin.“

      „Der Anruf war für mich“, sagte Sonja Winter kühl. Sie ging zur Bar und machte sich einen Drink. Iris sah ihr dabei zu. „Warum beobachtest du mich?“, fragte ihre Mutter scharf.

      „Ich beobachte dich nicht.“

      „Natürlich tust du das.“ Sonja Winter nahm einen ärgerlichen Schluck von ihrem Drink.

      „Darf ich ins Kino gehen?“, fragte Iris leise.

      „Allein?“, wollte Sonja wissen.

      „Ja“, antwortete Iris.

      Sonja trank wieder. Der Gin wärmte ihren Magen und begann in ihrem Körper zu kreisen. Sie fühlte sich wohl. „Von mir aus.

      „Danke, Mama.“

      „Aber du musst vorher etwas essen“, sagte Sonja.

      „Ich habe keinen Hunger.“

      „Sonst gehst du mir nicht aus dem Haus“, erpresste Sonja Winter ihre Tochter.

      „Ich werde eine Kleinigkeit essen“, nickte Iris und ging in die Küche.

      Sonja folgte ihr. „Ich werde dir Gesellschaft leisten. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Sie setzte sich schmunzelnd an den Küchentisch. „Frau Trebitsch hat bestimmt etwas Leckeres für uns vorbereitet.“ Frau Trebitsch war die Haushälterin. Sie hatte heute ihren freien Nachmittag.

      „Ich nehme mir ein Butterbrot“, sag Iris.

      Sonja Winter sah ihre dünne Tochter an und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Kind, warum bist du nur so schrecklich schwierig?“

      Iris schnitt sich eine hauchdünne Brotscheibe ab. „Wieso bin ich schwierig, wenn ich ein Butterbrot essen möchte?“

      „Frau Trebitsch gibt sich die allergrößte Mühe. Sie ist eine hervorragende Köchin. Ihre warmen Speisen sind ein Gedicht, ihre kalten Platten sind eine wahre Gaumenfreude – und du ignorierst, was sie für uns mit soviel Einfallsreichtum, Fleiß und Können zurecht zaubert und isst so etwas Profanes wie ein Butterbrot. Aber schön, dann isst du eben ein Butterbrot. Man muss bei dir ja schon froh sein, wenn du überhaupt etwas zu dir nimmst. Als ich in deinem Alter war, war nichts Essbares vor mir sicher. Ich hatte stets so einen Heißhunger, dass meine Mutter mich bremsen musste. Kind, hat sie immer gesagt, hör auf, so viel zu futtern, sonst bist du in einigen Jahren so rund wie ein Fass und bekommst keinen Mann.“ Sonja betrachtete ihre Tochter nachdenklich. „Du bist das genaue Gegenteil von mir – in jeder Beziehung. Wir sind uns überhaupt nicht ähnlich.“

      Iris bestrich die dünne Brotscheibe mit ganz wenig Butter. „Vielleicht bin ich nicht deine Tochter.“

      „Na, hör mal.“ Sonja Winter lachte. „Wenn ich alles so genau wüsste wie das ...“

      „Manchmal werden Babys vertauscht.“ Iris setzte sich zu ihrer Mutter und begann lustlos zu essen.

      Sonja Winter schüttelte überzeugt den Kopf. „Nicht in der Seeberg-Klinik. Nein, nein, du bist ganz sicher mein Kind – und du bist ein Wunschkind. Was haben dein Vater und ich uns gefreut, als wir sicher sein konnten, dass ich in anderen Umständen war! Einen richtigen Freudentanz haben wir aufgeführt. Damals hatten wir noch kein so großes, schönes Haus, aber wir waren trotzdem glücklich.“ Sonja senkte die Stimme. „Glücklicher als heute.“ Sie leerte ihr Glas mit einem schnellen Ruck.

      Als Iris das halbe Brot gegessen hatte, fragte sie: „Darf ich gehen, Mama?“

      „Du bist noch nicht fertig.“

      „Ich esse den Rest unterwegs“, versprach Iris.

      „Also gut.“ Sie standen beide auf. Sonja gab ihrer Tochter einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Amüsier dich gut, und bleib nicht zu lange fort, hörst du?“

      „Ja, Mama. Bist du zu Hause, wenn ich wiederkomme?“, fragte Iris.

      „Das weiß ich noch nicht. Vermutlich ja, aber es könnte sich zufällig etwas ergeben. Du siehst es ja, ob ich da bin oder nicht, wenn du heimkommst.“

      Iris verließ das Haus, und sie fütterte mit dem restlichen Butterbrot die Vögel. Das war ein Festtagsmenü für Spatzen und Tauben.

      5

      „Ja, bitte?“, sagte Sonja Winter in die Sprechmuschel des weißen Nostalgie-Hörers.

      „Hier spricht jemand, den du seit einer Ewigkeit nicht gesehen hast“, sagte ein Mann.

      Sonja überlegte. „Christoph?“

      „Nein“

      „Waldemar?“ fragte Sonja unsicher.

      „Nein.“

      „August?“, versuchte es Sonja noch einmal – noch unsicherer.

      „Auch nicht“, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.

      „Ist es möglich, dass Sie sich verwählt haben?“, fragte Sonja daraufhin kühl.

      „Spreche ich mit Sonja Winter?“, erkundigte sich der Unbekannte.

      „Ja“, antwortete Sonja.

      „Dann bin ich richtig“„ behauptete der Fremde.

      Die Stimme! Die Stimme! Sie kam Sonja irgendwie bekannt vor. Sie hatte Ähnlichkeit mit Patricks Stimme. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, und sie lachte erfreut auf. „Thomas! Bist du’s?“

      Der Anrufer lachte ebenfalls. „Na endlich! Ich dachte schon, du kämst nie drauf.“

      Thomas war Sonjas Schwager. Thomas Winter – Patrick Winters Bruder. Wie Tag und Nacht waren die beiden. Thomas war ein Windhund, ein Luftikus, seit jeher das schwarze Schaf der Familie. Kein Weiberrock war vor ihm sicher. Auch der von Sonja nicht. Er konnte lügen, dass sich die Balken bogen, hatte stets tausend verrückte Ideen, war ein großes Kind mit irren Träumen, würde nie erwachsen werden.

      Er hatte einen bezaubernden, jungenhaften Charme, dem alle erlagen. Sein Leben glich einer Fahrt mit der Hochschaubahn. Mal war er oben, mal unten, mal hatte er Geld, mal war er arm wie eine Kirchenmaus.

      Ein bunt schillernder Vogel, der viel Farbe in das Grau des Alltags brachte. Sein bienenfleißiger Bruder war in seinen Augen ein Dummkopf, der das Leben an sich vorbeiziehen ließ, ohne sich an dessen mannigfaltigen Schönheiten zu erfreuen.

      Thomas hielt nicht viel von redlicher Arbeit und emsigen Fleiß, er bevorzugte den Müßiggang und lag lieber auf der faulen Haut, als sich abzurackern.

      Die Geschäfte, die er abwickelte, waren nicht immer ganz sauber und bewegten sich zumeist hart am Rand der Legalität. Deshalb brachten sie auch mehr ein als die sogenannten seriösen Geschäfte. Thomas liebte das volle Risiko, brauchte den Nervenkitzel, der für ihn das Salz in der Suppe war, die sonst fad geschmeckt hätte.

      Er hatte eine Zeitlang hier gewohnt, hatte seinen Bruder betrogen, ausgenutzt und bestohlen. Fünfzigtausend Mark hatte Patrick durch Thomas „unsaubere Gangart“