sie an. Es wirkte.
Marie-Claire kicherte.
Er schaute sich noch einmal rasch um. Mit Puppe und Notizbuch in der Hand drehte er Marie-Claire den Rücken zu und schlug dann das Notizbuch auf. Seine Bewegungen waren beiläufig. Er konnte es sich nicht leisten, dass jemand auf ihn aufmerksam wurde.
»Was tust du denn da?«, fragte Marie-Claire. Sie kam um ihn herum. Neugierig starrte sie auf das schwarze Buch in seiner Hand, in das er rasch ein paar Sätze gekritzelt hatte. Aber er klappte es hastig zu, bevor die Kleine sah, dass die Buchstaben in einem schwachen Blau aufleuchteten.
»Schau«, sagte er und gab Marie-Claire Emmy zurück.
Marie-Claires Augen wurden riesengroß. »Er ist wieder dran!«, hauchte sie. Ungläubig starrte sie die Puppe an, schlenkerte sie. Der Kopf saß auf dem Körper und nichts wies mehr darauf hin, dass er kurz zuvor abgerissen gewesen war. Prüfend betrachtete sie den ehemals ausgefransten Hals. »Da sind keine Nähte«, bemerkte sie ziemlich altklug. »Wie hast du das gemacht?«
Nicholas lächelte sie erneut an. »Ich bin ein Zauberer.«
»Ich will das auch können!«
»Ich fürchte, das geht nicht«, sagte Nicholas.
»Warum nicht?«
»Schau mal, da kommt deine Mama!« Er stand auf, klopfte sich den Schmutz von den Knien, als die Frau mit einem Eis in der Hand den Kiosk verließ. »Du hast mir versprochen, ihr nichts zu verraten, weißt du noch?«
Marie-Claire nickte ernsthaft, aber sie war höchstens fünf Jahre alt. Sie würde ihrer Mutter erzählen, dass ein großer, schwarz gekleideter Junge gekommen war und ihre kaputte Puppe wieder heilgezaubert hatte. Und es würde als kindliche Fantasie abgetan werden. Nicholas kramte ein zusammengefaltetes Stofftaschentuch aus der Tasche und wischte dem Kind damit die tränenverschmierten Wangen sauber. »So«, sagte er. »Jetzt ist alles wieder gut.«
Die Mutter war in vielleicht zwanzig Metern Entfernung stehen geblieben und sah sich suchend nach Marie-Claire um. Dann entdeckte sie ihre Tochter auf dem Rasen und kam direkt auf sie und Nicholas zu. Dabei kam sie an einem Mann in einem Clownkostüm vorbei, der eine riesige Traube bunter Luftballons in der Hand hatte. Nicholas zuckte unwillkürlich zusammen, aber der Mann stand einfach da, ohne dass etwas geschah. Nur ein harmloser Luftballonverkäufer, wie es sie zu Hunderten in Paris gab. Kein Grund, in Panik zu geraten.
Marie-Claire strahlte Nicholas an. »Danke!«, zwitscherte sie. Dann rannte sie ihrer Mutter in die Arme.
Nicholas machte, dass er davonkam. Mit gesenktem Kopf ging er quer über den Rasen davon. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass Marie-Claire ihrer Mutter eine aufregende Geschichte erzählte. Er lächelte.
Der Clown war bei einer Familie stehen geblieben und verhandelte mit dem Vater über den Preis für einen schreiend pinkfarbenen Ballon. Der Wind wehte eine schwache Melodie über den Rasen. Ballade pour Adeline.
Nicholas fühlte seinen Pulschlag überdeutlich.
Er drehte sich um, suchte den überfüllten Platz ab. Ein Straßenmusikant stand direkt neben den Eisenstreben des Turms und hatte ein Keyboard aufgebaut, auf dem er das Stück spielte. Und dann, als Nicholas sich wieder umwandte und zu dem Clown und der Familie zurückblickte, kam ein Skateboardfahrer vorbeigeschossen. Er blieb an einer Rasenkante hängen und stolperte dem Clown direkt in die Hacken. Der verlor das Gleichgewicht, ließ die Ballons los, die sich in einer riesigen, bunt schillernden Schar in den Himmel von Paris erhoben.
Der Keyboardspieler hatte Ballade pour Adeline beendet. Für ein, zwei Sekunden war es merkwürdig still auf dem Platz, dann begann der Musiker ein neues Lied.
Greensleeves.
Und Nicholas wusste, dass das nie hätte passieren dürfen.
»Hey, Nicholas, was ist los? Du bist kalkweiß!« Luc stand plötzlich neben ihm, sein bester Freund. Er war mehr als einen Kopf kleiner als Nicholas und kräftig gebaut. Seine Haare hatte er ganz kurz geschnitten, sodass sie wie ein dunkler Schatten auf seinem Schädel wirkten. Er hatte zwei Becher Kaffee dabei und mit einem davon deutete er auf Nicholas’ Gesicht.
Nicholas’ Blick hing an der Luftballontraube, die mittlerweile nur noch ein kleiner bunter Punkt zwischen den Wolken war. Der Keyboardspieler hatte mittlerweile auch Greensleeves beendet und packte seine Sachen zusammen.
»Nicholas?« Luc berührte ihn an der Schulter. »Was ist?«
Da endlich riss sich Nicholas aus seiner Erstarrung. Er versuchte, Luft zu holen, aber es gelang ihm nur mit Mühe. »Es geht los«, keuchte er.
Eine Frau schlenderte vorbei und als sie seine Erschütterung bemerkte, stockte ihr Schritt kurz. Luc stellte die beiden Kaffeebecher auf einer nahe liegenden Bank ab und nahm Nicholas’ Arm. »Komm. Setz dich erst mal.«
Die Frau ging mit einem Ausdruck von Erleichterung weiter.
Nicholas ließ sich von seinem Freund auf die Bank niederdrücken.
»Was geht los?«, fragte Luc.
Nicholas blinzelte. Ihm war plötzlich schwindelig, doch er riss sich zusammen. »Sie ist auf dem Weg hierher«, sagte er. Seine Stimme klang rau.
»Wer?« Einen Moment lang war Luc irritiert, dann erschien ein Ausdruck von Begreifen auf seiner Miene. »Mila?«, stieß er hervor.
Nicholas schloss die Augen.
»Schwachsinn!«, sagte Luc.
Nicholas deutete in die Richtung, in der die Luftballons verschwunden waren. Dann dorthin, wo eben noch der Keyboardspieler gestanden hatte und sich in diesem Moment zwei junge Männer auf einen Steinsockel setzten und Händchen haltend die Leute beobachteten. »Der Clown, die Luftballons, die Musik. Es stimmt alles, Luc.«
Luc schüttelte den Kopf. »Unmöglich!«, wiederholte er. »Ein Zufall! Nicholas, das ist nur ein bescheuerter Zufall!« Er packte Nicholas an den Schultern, schüttelte ihn. »Ich meine: Du warst damals wie alt? Dreizehn? Du bist nie im Leben so mächtig, dass du …« Er stockte. »Verdammt!«, fluchte er.
Nicholas bohrte die Fingernägel in das Holz der Bank. »Tja«, sagte er. »Sieht ganz so aus, als sei mein Leben soeben ein bisschen interessanter geworden.«
Luc starrte ihn an. »So kann man es natürlich auch formulieren.«
Nicholas zuckte mit den Schultern.
Eine Weile schwiegen sie beide.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Luc.
»Ich muss zum Gare de l’Est. Ich muss wissen, ob ich recht habe.«
Luc fuhr hoch. »Es ist nur eine Geschichte, Nicholas! Nichts weiter!«
»Wir werden sehen«, murmelte Nicholas. Er stand auf und zog fröstelnd seinen Mantel um sich zusammen.
Wenn ich wirklich recht habe, dachte er, dann ist es jetzt Zeit zu sterben.
»Sind Sie zufrieden?«
Wieder riss der alte Mann Mila aus ihren Gedanken. Leicht verwirrt schaute sie zu ihm auf, weil es sie beim Schreiben immer Anstrengung kostete, in die Realität zurückzukehren. »Wie bitte?«
Der TGV war langsamer geworden und schlängelte sich durch das Schienengeflecht in Richtung Gare de l’Est, einem der großen Bahnhöfe von Paris.
Der alte Mann deutete auf ihr Notizbuch. »Das, was Sie eben geschrieben haben: Sind Sie zufrieden damit? Besonders viel haben Sie ja nicht geschafft.«
Ja, dachte Mila verdrossen. Weil ich andauernd unterbrochen werde!
Sie ließ ihren Blick über das Geschriebene huschen. Viel hatte sie tatsächlich nicht geschrieben, dabei war die Geschichte zuerst ganz gut in Gang gekommen. Ohne viel darüber nachzudenken, hatte sie eine kurze Szene verfasst, in der der Eiffelturm vorkam und ein kleines Mädchen mit Namen Marie-Claire, das