an und Mila taumelte auf eine der orangefarbenen Bänke zu.
»Hoppla«, sagte jemand. Ein schlanker Junge, ungefähr in ihrem Alter und mit dunklem Haar, grinste sie an. Er saß auf der unbequemen Bank und sie wäre fast über seine ausgestreckten Beine gestolpert. Inmitten des Chaos auf dem Bahnhof strahlte er eine so seltsame Ruhe aus, als hätte er alle Zeit der Welt. Hatte er vielleicht auch. Er hatte jedenfalls kein Gepäck dabei.
»Tut mir leid«, sagte Mila. Sie sah ihm in die Augen, die milchkaffeebraun waren und in denen etwas lag, das sie nicht recht einordnen konnte.
»Kein Problem«, sagte der Junge.
Der Zug auf dem Nachbargleis löste seine hydraulischen Bremsen mit einem hässlichen Zischen und hüllte sie in einen Schwall stinkende Luft. Irgendwo begann ein kleines Kind zu weinen.
»Na, hab ich dir die Sprache verschlagen?« Der Junge zwinkerte Mila zu und sie riss sich zusammen. Den Spruch hatte sie sich verdient. Was stand sie auch herum und starrte fremde Jungs an?
Die Großfamilie hatte offenbar nicht gefunden, wonach sie suchte. Jedenfalls kam sie denselben Weg zurück. Die dicke blonde Frau redete noch immer auf ihren Mann ein.
Mila wollte die Worte des Jungen nicht auf sich sitzen lassen.
»Ja, hast du«, erwiderte sie und grinste. »Deswegen kann ich dir auch meine schlagfertige Antwort auf deine blöde Frage leider nicht verraten.« Sie packte ihre Umhängetasche fester und lief in Richtung Haupthalle. Es wurde Zeit, dass sie zu Isabelle kam und sich diese Reise mit einer kalten Dusche von der Haut spülte.
Liebevoll rückte Maréchal seine Bücher zurecht. Er war Buchhändler, einer der sogenannten Bouquinisten, und betreute wie jeden Tag seinen Stand am Ufer der Seine, wo er den Großteil seines Tages verbrachte. Er war nicht mehr jung, an die sechzig. Er trug Cordhosen und eine ausgebeulte Strickjacke und er hatte Falten um die Augen, die aussahen, als kämen sie vom vielen Lächeln. Sein Bart war weiß und dicht, ebenso wie der schmale Haarkranz, der ihm geblieben war.
Die Bouquinistenstände mit den grünen Dächern bildeten einen der berühmtesten und romantischsten Büchermärkte der Welt unter freiem Himmel und Maréchal war stolz darauf dazuzugehören. Noch viel stolzer allerdings war er darauf, dass es an seinem Stand, im Gegensatz zu denen vieler Kollegen, ausschließlich Bücher gab. Während Maréchals Standnachbar Jean und auch viele der anderen Bouquinisten sich ganz auf ihre Haupteinnahmequelle, die Touristen, eingestellt hatten und ihnen Posterdrucke, Kataloge und sogar Kühlschrankmagneten verkauften, gab es bei Maréchal wie in den guten, alten Zeiten nur Bücher. Und die meisten davon waren sehr alt. Rücken an Rücken standen sie unter dem hochgeklappten Holzdach, sorgfältig nach Größe und Einbänden sortiert. Ganz rechts die kleineren im Quartformat und nach links hin immer größer werdend, bis ganz an der Seite schließlich die dicken und schweren Folianten standen. Es gab Bücher über Schlachten, die vor vielen Jahrhunderten geschlagen worden waren, Bücher über Paris, Bücher über Schriftsteller und Künstler. Gedichtbände von berühmten französischen Autoren wie Baudelaire genauso wie moderne Taschenbuchbändchen völlig unbekannter Schriftsteller, die im Selbstverlag herausgegeben und Maréchal überlassen worden waren.
Mit einem Lächeln zog er eines dieser dünnen Bändchen heraus, schlug es auf und sog den Geruch von Papier und frischer Druckerschwärze ein. Wenn er seinen Stand aufklappte, roch es normalerweise eher nach Leder und Staub, trotzdem mochte er es genauso gern, an den frisch gedruckten Worten junger Dichter zu riechen.
Es war ein sonniger, für den Frühsommer angenehm warmer Tag und die Stadt war voller Touristen, die die Sonne ausnutzten und den Tag am breiten Strom genossen, der sich majestätisch durch Paris zog.
Maréchal setzte sich auf die Ufermauer und beobachtete die Leute. Ab und an kam jemand zu ihm an den Stand geschlendert, stöberte durch sein Angebot, kaufte aber nichts. Maréchal störte sich nicht daran.
Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche seiner alten Strickjacke, schlug es auf und begann zu schreiben. Gleich darauf ließ er das Büchlein jedoch wieder sinken, denn ein junges Paar Mitte zwanzig trat an seinen Stand. Die Frau hatte einen verrückten Turban aus pink- und lilafarbenen Stoffbahnen auf dem Kopf. Sie und ihr Freund, der in Maréchals Augen ein bisschen aussah wie Aramis von den Drei Musketieren, hielten Händchen. Maréchal lächelte die beiden an und steckte sein Notizbuch fort. Die Frau ließ ihren Blick an den Buchrücken entlanggleiten. Der Reihe nach zog sie ein Buch nach dem anderen hervor, bis sie bei einem ganz besonderen angekommen war. Es war eine kostbare Ausgabe aus den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts: Die Blumen des Bösen von Charles Baudelaire.
»Mögen Sie Baudelaire?«, fragte Maréchal.
Sie schaute von ihrer Lektüre auf. Sie hatte ihre Augen tiefschwarz umrandet, was ihr ein etwas eulenhaftes Aussehen gab. Statt auf seine Frage zu antworten, zitierte sie: »Er ist ein literarisches Schreckgespenst, das immer aussieht, als wäre es einer unterirdischen Höhle entstiegen.«
Maréchals Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Le Figaro«, sagte er und vollendete das Zitat: »Irgendwo im Dunkeln hält er – als Drohung – Bücher versteckt, die gar nicht existieren.«
Die junge Frau lachte. »Ich liebe diesen Mann!« Sie drehte das Buch um und warf einen Blick auf den mit dünnem Bleistift in die hintere Klappe geschriebenen Preis. Ihre Miene verdüsterte sich. »Aber ich fürchte, ich kann mir das nicht leisten.« Sie stellte die Ausgabe wieder an ihren Platz.
Maréchal unterdrückte sein Bedauern. Das Buch hätte gut zu dieser jungen Frau gepasst. »Warten Sie!«, sagte er, als die Frau und ihr Begleiter schon Anstalten machten weiterzugehen. Er zog sein Notizbuch wieder hervor, schrieb ein paar Gedichtzeilen auf eine leere Seite, riss sie heraus und reichte sie der Frau.
Die warf einen Blick darauf. »Das ist aber nicht Baudelaire.«
Maréchal schüttelte den Kopf. »Es stammt von einem ganz und gar unbekannten Dichter.«
Die Frau las seine Verse aufmerksam durch, dann sah sie ihm direkt in die Augen. »Unbekannt vielleicht«, sagte sie. »Aber keinesfalls ohne Talent. Ich danke Ihnen.« Sie steckte den Zettel sorgsam ein, dann nahm sie wieder die Hand ihres Begleiters, der die ganze Zeit geduldig gewartet hatte.
»Was hast du da bloß wieder geschrieben?« Maréchals Standnachbar Jean, Buchhändler und knapp an die sechzig wie er selbst, stellte die Frage, kaum dass die beiden jungen Leute außer Hörweite waren.
»Nichts«, sagte Maréchal. Jean hielt ihn schon seit Jahren für einen komischen Kauz. Und er hatte ganz recht damit. »Ich wünsche den beiden einfach alles Glück der Welt.«
Er streckte sich und blickte sich lächelnd um. Doch im nächsten Moment durchfuhr es ihn, als habe eine ganze Horde Geister mit kalten Händen in sein Genick gefasst. Ihn fröstelte. Er starrte auf einen alten Mann in einem farblos grauen Mantel, der gegenüber auf der anderen Straßenseite zwischen den Häusern aufgetaucht war und direkt auf ihn zuhielt.
»Maréchal?« Jean sah ihn beunruhigt an. »Was ist los? Du bist plötzlich ganz blass geworden.«
Maréchal schüttelte rasch den Kopf. »Ich habe nur gedacht, ich hätte jemanden gesehen. Passt du einen Augenblick auf meinen Stand auf, bitte?«
Jean nickte und da überquerte Maréchal auch schon die breite Straße, die den Fluss säumte, für dessen Schönheit er jetzt keinen Blick mehr hatte.
Der alte Mann mit dem grauen Mantel war im Schatten eines Cafés stehen geblieben und sah ihm entgegen. Das Gefühl, dass Geister ihn mit kalten Fingern berührten, verstärkte sich noch einmal, als Maréchal vor ihn hintrat.
Der Alte rieb sich die Schläfen mit den Fingerspitzen beider Hände, als habe er starke Kopfschmerzen. Dann seufzte er und obwohl Maréchal ihn noch nie zuvor gesehen hatte, wusste er plötzlich, was kommen würde.
»Es geht los, nicht wahr?«, flüsterte er.
Der alte Mann nickte. »Das Mädchen. Sie kommt gerade auf dem Gare de l’Est an.« Er machte eine Pause.
»Wer