Dann machte er auf dem Absatz kehrt und suchte das Weite.
Mila starrte ihm nach, aber er war noch nicht weit weg, als ihre Fassungslosigkeit sich in Zorn wandelte. »Was sollte das?!«, fauchte sie Nicholas an. »Das war völlig unnötig!«
Er zuckte nur mit den Schultern. Scharf zog er Luft durch die Zähne, als habe er selbst Schmerzen. Seine Hand umklammerte sein eigenes Handgelenk, dabei waren Erics Knochen gebrochen, nicht seine.
Mila spürte Tränen in sich aufsteigen. Tränen der Enttäuschung. Der Junge, über den sie geschrieben hatte, hätte nie im Leben so etwas getan.
Nicholas rührte sich nicht. Und dann sagte er etwas sehr Sonderbares.
»Wenn es irgendwie in meiner Macht steht, Mila, dann werde ich es verhindern.«
»Was verhindern?« Sie schrie jetzt fast.
Aber er drehte sich einfach um. Und ging weg.
Die Wüste war blau, der Himmel rot, die Palmen lila. Und die beiden Kamele grasgrün.
Milas Blick wanderte über das großflächige Gemälde, das die Backsteinmauer in der Rue Cortot zierte, in der Isabelle wohnte. Dann warf sie einen Blick auf ihr Smartphone, auf dem sie ein Foto eben dieses Gemäldes geöffnet hatte. Auf dem Foto prangte an einer Stelle direkt unter einem Palmwedel ein dickes schwarzes Kreuz.
»Schlüssel«, hatte ihre Freundin Isabelle an dieses Kreuz geschrieben.
Mila ließ das Handy sinken und suchte die entsprechende Stelle auf der Mauer. Wenn sie sich reckte, kam sie gerade so daran. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und tastete die bezeichnete Stelle ab. Der Ziegelstein darunter war lose. Er ließ sich herausziehen und als Mila es tat, fiel ihr auch schon ein einzelner Sicherheitsschlüssel in die Hände. Ein Schnürsenkel in Neongrün war durch das Loch gezogen und mit sieben nebeneinanderliegenden Knoten verknotet.
Mila steckte den Backstein wieder in das Loch. Dann wandte sie sich der Haustür links neben der Backsteinmauer zu und schloss auf.
Sie betrat die winzige Wohnung im Erdgeschoss und atmete erleichtert auf. Nach den Ereignissen auf dem Bahnhof hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich hier anzukommen und eine Tür hinter all den sonderbaren und schrecklichen Dingen zu schließen, die passiert waren, seit sie aus dem Zug gestiegen war.
Nachdem dieser brutale Kerl verschwunden war, hatte Mila Eric gesucht, weil sie ihm helfen wollte. Aber sie hatte ihn nicht wiedergefunden. Eine ganze Weile war sie durch den Bahnhof gelaufen. Vergeblich. Und auch von der Obdachlosen mit ihren merkwürdigen Sprüchen hatte sie nichts mehr gesehen.
Also hatte sie beschlossen, all diesen Irrsinn hinter sich zu lassen und zu Isabelle zu fahren. Ihre Freundin war nicht nur vier Jahre älter als sie, sondern stand auch mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Schon im Camp damals war sie jemand gewesen, der immer eine Lösung fand – und wenn nicht, der dann wenigstens den ganzen Mist, der manchmal passierte, fröhlich weglachen konnte. Isabelle würde Mila den Kopf zurechtrücken und ihr die Sicherheit zurückgeben, die sie mit ihrer Ankunft in Paris verloren hatte.
Ihr Blick schweifte über eine bunt zusammengewürfelte und ganz offenbar aus dem Sperrmüll stammende Couchgarnitur, ein aus Ziegelsteinen und Brettern gebautes Regal mit alten, zerlesenen Taschenbüchern und einen uralten und ziemlich wackelig aussehenden Esstisch mit unterschiedlich bunt angemalten Stühlen. An jeder Wand hingen Dutzende von abstrakten Bildern und auch auf dem Fußboden standen sie in mehreren Reihen übereinander gegen die Wände gelehnt.
Isabelle lebte von der Unterstützung durch ihre reiche Familie und davon, dass sie Touristen quietschbunte Ansichten von Paris in schrillen Farben verkaufte. Ihr Herz jedoch schlug für ihre eigene Kunst. Sie malte abstrakte Gemälde in düsteren Tönen und mit unheimlich verzerrten Gestalten. Verkauft hatte sie davon bisher nicht ein einziges. Was vermutlich ein Grund dafür war, dass die Bilder jeden Quadratzentimeter ihrer Wände bedeckten.
Der Geruch von frischer Ölfarbe und Firnis hing in der Luft.
Mila zog die Tür hinter sich zu und atmete das erste Mal, seit sie den Bahnhof verlassen hatte, tief durch.
Auf dem Tisch in der Mitte des Raums standen eine Flasche mit Wasser und eine mit Saft bereit. »Mach es dir gemütlich, bin um kurz nach sechs zu Hause«, hatte Isabelle in ihrer unverwechselbaren, kaum leserlichen Handschrift auf einen Zettel gekritzelt. Mila musste lächeln.
Sie streifte sich ihre Schuhe ab, stellte ihr Gepäck neben die Küchenzeile, ließ sich auf die Couch fallen und schloss die Augen.
Sie war erledigt. Und brauchte wirklich eine Pause.
Doch sofort waren die Bilder wieder da. Und mit ihnen auch die Geräusche.
Vor allem das Knacken, mit dem Erics Handgelenk gebrochen war.
Hatte sie das wirklich erlebt? Jetzt, in der Abgeschiedenheit von Isabelles Wohnung, kamen ihr die Szenen auf dem Bahnhof vollkommen unwirklich vor. Eric, der ihr Portemonnaie und Handy geklaut hatte. Und Nicholas …
Nicholas mit den schwarzen Haaren und den blauen Augen. Dem schwarzen Mantel mit dem unverwechselbaren Kragen.
»Absurd!«, murmelte sie. »Völlig absurd.« Vermutlich hatte sie zu wenig geschlafen und zu viel geschrieben in letzter Zeit. Ja, dieser Kerl hieß Nicholas, und ja, er hatte schwarze Haare und blaue Augen – aber das konnte auch einfach ein merkwürdiger Zufall sein.
Plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis, noch einmal die Sätze zu lesen, die sie im Zug geschrieben hatte. Sie holte ihr Notizbuch aus der Umhängetasche und blätterte auf die letzte beschriebene Seite.
Es fühlte sich seltsam an, ihre eigenen Worte noch einmal zu überfliegen. Diese Fürsorglichkeit, die Nicholas dem kleinen Mädchen gegenüber an den Tag legte, passte so überhaupt nicht zu der Brutalität, mit der er Eric das Handgelenk gebrochen hatte. Klar. Weil Realität und Fiktion nicht das Geringste miteinander zu tun hatten!
Sie seufzte auf, weil ihre Fantasie mal wieder mit ihr durchgegangen war. Es war ja nicht das erste Mal, dass das passierte. Sie griff nach ihrem Bleistift und begann, ein paar Sätze in ihr Buch zu kritzeln, so wie sie es immer tat, wenn sie etwas verstörte. Bisher hatte es ihr noch jedes Mal geholfen und ganz bestimmt konnte sie die Ereignisse so besser aus dem Kopf bekommen.
Sie fing mit Eric an und beschrieb ihn, so genau es ging. Seine schmutzigen Klamotten, seine braunen Haare, die Augen, in denen etwas geschimmert hatte, was sie nicht richtig zuordnen konnte. Leere war es, das begriff sie jetzt beim Schreiben. Eine Müdigkeit, die eigentlich nicht zu seinem Alter passte.
Sie beschrieb Erics gebrochenes Handgelenk und dann, aus einer Laune heraus, schrieb sie, dass der Bruch wie durch Zauberhand heilte. Sie hielt kurz inne, aber weil sie schon mal dabei war, schrieb sie weiter. Wie Eric sich neben eine Reihe Schließfächer stellte und sein Blick auf eine Frau mit langen roten Haaren fiel. Automatisch checkte er, ob sie als Opfer infrage käme.
Doch dann bekam er ein schlechtes Gewissen wegen dem, was er mit Mila gemacht hatte.
Mila beschrieb, wie er an sie dachte und ihm dabei klar wurde, dass es erbärmlich war, davon zu leben, am Bahnhof Frauen auszunehmen.
Inzwischen flog Milas Stift wie von selbst über das Papier, produzierte Wörter, Sätze, Absätze. Zeile um Zeile, Seite um Seite schrieb sie und dann – urplötzlich – leuchtete die Mine des Bleistifts auf. Wie Tinte aus Licht floss es aus ihr heraus. Das Leuchten erfasste die letzten Buchstaben, die Mila geschrieben hatte. Ihre Wörter und Sätze füllten sich nach und nach mit blauem Licht, so wie ein trockener Kanal sich mit Wasser füllte, wenn die Schleuse geöffnet wurde.
Erschrocken ließ Mila den Bleistift fallen. Sah noch einmal hin. Blinzelte.
Verschwunden war das blaue Leuchten. Das Geschriebene sah