Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


Скачать книгу

den Punkt gebracht. Er hatte die Geschichte tatsächlich in eine neue Richtung treiben wollen, als er Eric das Handgelenk gebrochen hatte. Sein Freund kannte ihn ziemlich gut.

      »Was ich sagen will …« Luc ließ nicht locker. »Es muss nicht so enden, wie du es dir ausgedacht hast.«

      Nicholas biss die Zähne zusammen. Plötzlich waren da Erinnerungen in seinem Kopf. Erinnerungen an das, was er vor Jahren selbst geschrieben hatte. Blut. Schmerz. Eine Kugel, die sein Herz durchschlug …

      Gott, was für theatralisches Zeug! Die Laune eines Teenagers. Er war einfach ein dummer Junge gewesen, der keine Ahnung davon gehabt hatte, dass sein Schreiben echte Konsequenzen nach sich zog.

      »Übrigens …« Luc wartete, bis Nicholas ihn erneut ansah. »Dein Vater ist auf dem Weg hierher.«

      Nicholas überraschte das nicht sonderlich, er hatte damit gerechnet. Sein Vater wusste, dass er sich gern hierher zurückzog, wenn er allein sein und nachdenken wollte. Und Nicholas war sich sicher, dass sein Vater auch längst von Mila wusste.

      Er schaute zu dem schmalen Gang, der seitlich vom Altarraum abging und der einen Zugang schuf vom eleganten Stadthaus seiner Familie zu dem unterirdischen Gängelabyrinth, das ganz Paris durchzog.

      Schritte von zwei Menschen drangen aus diesem Gang. Die einen waren eher leise, wie von teuren Ledersohlen. Die anderen klangen nach Stiefelabsätzen. Sein Vater kam als Erster in Nicholas’ Blickfeld. Er trug einen eleganten Designeranzug in Schwarz, maßgeschneidert, sodass er perfekt an seinem schlanken Körper saß. Seine italienischen Schuhe waren handgenäht. Villain Caruel war ein ebenso reicher wie mächtiger Mann. Sein Gesicht – das Nicholas’ so ähnlich sah – wirkte nicht wie sonst souverän und offen, sondern maskenhaft und verkniffen.

      Ein zweiter Mann kam direkt hinter ihm. Er war groß, muskulös und wirkte grimmig, aber das tat er oft. Serge Lefevre war der persönliche Assistent von Nicholas’ Vater, eine Mischung aus Leibwächter und Mädchen für alles, der seinen Arbeitgeber wie ein Schatten begleitete.

      Nicholas mochte ihn nicht besonders, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte.

      Serge wusste, zu welchen Dingen Nicholas – und auch Villain Caruel – fähig waren. In seinen Augen lag oft ein versteckter angewiderter Ausdruck deswegen. Nicholas fragte sich manchmal, warum er für die Caruels arbeitete und was sein Vater ihm dafür bezahlte, dass er über die Dinge schwieg, die er sah. Aber sie hatten nie mehr als belanglose Worte gewechselt und Nicholas hatte nicht vor, daran in der nächsten Zeit etwas zu ändern.

      Caruel blieb abrupt stehen. »Nicholas«, sagte er nur.

      Langsam stemmte Nicholas sich in die Höhe. »Du weißt es schon«, sagte er. Es war keine Frage. Das Schriftmal an seinem Handgelenk tat höllisch weh, aber er zwang sich, es nicht zu umklammern. Er wollte nicht, dass sein Vater es bemerkte.

      Endlose Sekunden vergingen. Schließlich nickte Caruel. »Ich habe es nicht glauben können.« In seinem Blick stand der verzweifelte und völlig vergebliche Versuch, gefasst zu wirken.

      »Tja«, sagte Nicholas nur.

      Caruel schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, hob er seine Hand in die Höhe und zog den Hemdärmel zurück.

      Auf seinem Arm leuchteten die gleichen Schriftzeichen wie bei seinem Sohn.

      Nicholas fluchte. »Bei dir auch?« Er hatte befürchtet, dass das geschehen würde. Es war bereits mehrmals geschehen, aber Nicholas hatte gehofft, dass wenigstens sein Vater dieses Mal von dem Phänomen verschont bleiben würde.

      Caruels Blick war nicht auf die Schrift, sondern in Nicholas’ Gesicht gerichtet. »Wie kann das sein?« Seine Stimme war rau und Nicholas wusste, was jetzt kommen würde. Sie hatten es in den letzten Jahren oft genug durchgekaut und doch hatte sein Vater offenbar das Bedürfnis, es immer und immer wieder zu wiederholen. Und genau das tat er auch jetzt.

      »Das, was hier geschieht, Nicholas, ist noch nie zuvor geschehen«, sagte er. »Kein Fabelmächtiger hat je zuvor seine eigene Zukunft zu Ende geschrieben.«

      »Genau!« Luc, der die ganze Zeit auf seinem Platz auf der Kirchenbank sitzen geblieben war, sprang ebenfalls auf. »Und es ist auch nicht so, wie wir alle angenommen haben. Es läuft anders ab!«

      Gleichzeitig wandten Nicholas und Caruel ihm den Kopf zu.

      »Die Realität«, stieß Luc hervor. »Sie stimmt nicht hundertprozentig mit dem überein, was Nicholas geschrieben hat. Es muss also vielleicht nicht … böse enden.«

      Serge stand regungslos wie eine Statue im Hintergrund und machte ein ausdruckloses Gesicht.

      Caruel sah seinen Sohn sinnierend an. »Nein«, sagte er. »Vielleicht nicht.« Er wandte sich ab, ging zu dem Altar hinüber und auf dem Weg dorthin zog er ein kleines Oktavheftchen aus seiner Anzugtasche.

      »Was hast du vor?« Nicholas klang alarmiert.

      Caruel antwortete nicht. Er schaute über den Altar hinweg, dann zog er einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche, der dem, den Nicholas benutzte, sehr ähnlich sah.

      »Ähm, Monsieur Caruel?« Plötzlich schien Serge nervös zu sein. Unruhig trat er von einem Bein aufs andere.

      Caruel achtete nicht auf ihn. Sein Gesicht strahlte jetzt Entschlossenheit aus und er klickte die Kugelschreibermine heraus. »Ich habe keine andere Wahl.«

      Nicholas trat einen Schritt vor, blieb wieder stehen. Er sah Serge an. »Halten Sie ihn auf«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

      Serge reagierte nicht. Er wirkte unsicher, was er tun sollte.

      »Halten Sie ihn auf«, wiederholte Nicholas. »Er will versuchen, meine Geschichte umzuschreiben, aber das darf er nicht. Auf mich hört er nicht.«

      »Bleiben Sie, wo Sie sind, Serge!«, befahl Caruel.

      Spannung lag in der Luft.

      Serge dachte nach. Einige Sekunden verstrichen. Caruel setzte den Kugelschreiber auf die Seiten des Oktavheftchens.

      »Bitte, Serge!«, Nicholas trat einen Schritt auf den Leibwächter seines Vaters zu.

      Da endlich reagierte Serge. »Monsieur Caruel«, sagte er. »Vielleicht sollten Sie das wirklich lieber lassen.« In seiner Miene lag noch immer Verunsicherung.

      »Denk an das, was Maman passiert ist.« Nicholas brachte die Worte nur als heiseres Flüstern heraus, aber sie hatten endlich die erhoffte Wirkung.

      Caruel erstarrte. Dann setzte er den Kugelschreiber wieder ab. Er drehte sich um. Falten lagen um seine Augen. Die Linien zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln waren so tief, als hätte er sie sich mit einem Messer ins Fleisch geschnitten. Sekundenlang stand er einfach nur da.

      Dann schleuderte er den Kugelschreiber mit einem frustrierten Aufschrei gegen die Wand der Krypta.

      Mila stand an einem altmodischen Himmelbett mit Vorhängen aus schwerem dunkelrotem Samt. Im ersten Moment war sie verwirrt, aber dann begriff sie, dass sie träumte.

      Sie träumte, wie sie die Hand ausstreckte und den Vorhang des Bettes zur Seite schob. Ein uralter Mann lag vor ihr – lang ausgestreckt, die Hände auf der Brust gefaltet. Sie wollte sein Gesicht betrachten, aber es ging nicht. Es war verschwommen, als schaue sie durch eine Milchglasscheibe. Nur seine Augen konnte sie erkennen. Sie waren offen. Er sah sie an und blickte doch durch sie hindurch.

      »Du darfst nicht um mich trauern«, sagte er. Mila wusste, dass er nicht mit ihr sprach, sondern mit jemandem, der hinter ihr stand. Sie wollte sich umdrehen, aber sie konnte sich nicht rühren.

      Der alte Mann machte einen Versuch, sich aufzusetzen, doch er war zu schwach dazu. Er hustete qualvoll. Dann wisperte er etwas, das Mila nicht verstehen konnte.

      Sie beugte sich zu ihm hinab, brachte ihr Ohr an seinen Mund. Ein unangenehmer Geruch ging von ihm aus, er roch nach Alter und Krankheit und nach tiefer, unendlicher Verzweiflung.

      »Verzeih mir!«,