vor und zurück. Dann schaute sie zu Isabelles funzeliger Lampe hoch. War sie einer optischen Täuschung aufgesessen? Vermutlich. Wie lange war sie schließlich unterwegs gewesen? Acht, neun Stunden, in denen sie kaum etwas gegessen und viel zu wenig getrunken hatte.
Kein Wunder, dass sie Halluzinationen bekam.
Sie verstaute ihr Buch und den Stift in ihrer Umhängetasche, streifte die Schuhe ab und schenkte sich ein großes Glas Wasser ein, das sie in einem Zug leer trank. Sie schaute auf die Uhr. Es würde noch gut zwei Stunden dauern, bis Isabelle nach Hause kam. Sie sollte die Zeit nutzen, um sich auszuruhen. Wie sie ihre Freundin kannte, würde das heute ein langer Abend werden.
Sie legte sich der Länge nach aufs Sofa.
Einige Minuten lang starrte sie an die Decke. Ein staubiger Spinnfaden hing an der Lampe und bewegte sich sachte in irgendeinem Luftzug, den Mila nicht wahrnehmen konnte. Tatsächlich schien das Schreiben geholfen zu haben. Sie fühlte sich leichter als vorher und die Bilder vor ihrem inneren Auge wurden blasser, um anderen Platz zu machen: von ihrer Mutter und dem Streit, den sie gehabt hatten. Vom ICE am Berliner Hauptbahnhof, in den sie früh am Morgen gestiegen war. Dann das eintönige Rattern der Zugräder …
Zum ersten Mal, seit sie in Paris angekommen war, verlangsamte sich ihr Herzschlag. Ihre Glieder wurden schwer. Als ihr die Augen zufielen, seufzte sie auf und drehte sich auf die Seite. Und kurz darauf war sie eingeschlafen.
In der großen Halle des Gare de l’Est stand Eric an die Seitenwand einer Reihe Schließfächer gelehnt und hielt sich fluchend das Handgelenk. Der Schmerz war fies, auch wenn er daran gewöhnt war. Er hatte sich schon öfter den ein oder anderen Knochen gebrochen. Das brachte das, was er am liebsten tat, so mit sich. Aber dass dieser beschissene Drecksack wirklich durchgezogen hatte, ging ihm nicht in den Kopf. Dazu hatte nicht die geringste Veranlassung bestanden.
Er hob den Blick, als eine zierliche Frau mit roten Haaren und teuer aussehender Kleidung an ihm vorbei zu den Schließfächern ging. Automatisch scannte er sie. Sie wirkte gebildet. Bei ihr würde er mit seiner Baudelaire-Masche und seinem Tausend-Watt-Lächeln leicht landen können. Außerdem sah sie wohlhabend aus. Vermutlich befanden sich in ihrer Geldbörse hundert Euro oder sogar mehr.
Ein leichtes Spiel also. Lukrativ.
Er sah auf seine Hand hinunter, die plötzlich überhaupt nicht mehr wehtat. Verwundert bewegte er das Gelenk. Es ging ohne Probleme.
Die Schmerzen waren verschwunden.
Sollte ihm recht sein. Er konzentrierte sich wieder auf die Frau mit den roten Haaren. Er war schon drauf und dran, sich von den Schließfächern abzustoßen und zu ihr zu gehen, als Milas Gesicht vor seinem geistigen Auge aufflammte. Die Art, wie sie geschaut hatte, als ihr klar geworden war, dass er sie bestohlen hatte. Der Schrecken, vor allem aber die Scham, die sie empfunden hatte, waren ihm wie ein Messer in den Leib gefahren. Hübsch hatte sie ausgesehen, dachte er. Selbstbewusst und klug wirkte sie. Das gefiel ihm.
Er beobachtete, wie die Rothaarige ihren Koffer in eines der Schließfächer einschloss und danach in einen der kleinen Blumenläden ging. Dabei zog sie ihre Geldbörse aus der Tasche. Das Ding war von Louis Vuitton. Was für eine Gelegenheit!
Wieder dachte er an Mila, an die Art, wie sich ihre blonden Locken rechts und links ihrer Wangen kringelten.
Sie hatte kein Wort zu ihm gesagt, als sie begriffen hatte, dass er sie bestohlen hatte. Aber sie hatte ihn angesehen wie ein Insekt, das man besser zertrat.
Er knirschte mit den Zähnen. Es war schon erbärmlich, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente.
Eric stieß sich von den Schließfächern ab.
Und ging davon.
Die verfallene Krypta unter dem alten Friedhof Père-Lachaise wirkte wie in friedliches Licht getaucht. Die uralten Malereien an den Wänden und über Nicholas’ Kopf waren verblasst; Geschichten, die seit Jahrhunderten von niemanden mehr weitererzählt wurden. Wurzeln wuchsen durch das alte Gewölbe. Die Sonne schien durch Spalten und Risse, malte schimmernd helle Vorhänge in die staubige Luft. Moos überzog Pfeiler und Säulen, sodass alles einen sanftgrünen Schimmer hatte. Es roch nach Pilzen und nach Erde.
Nicholas saß auf einer der alten Kirchenbänke, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab, ließ den Kopf hängen und dachte nach. Ab und an strich er über das blaue Leuchten an seinem Handgelenk.
Das hier war der totale Albtraum. Und er war leider darin gefangen.
Am besten, er schrieb schon mal auf, wie er sich seine Beerdigung vorstellte. Nicht, dass sie noch auf die Idee kamen, Candle in the Wind zu spielen.
Irgendwann kam Leben in ihn. Er griff in die Manteltasche und zog sein Notizbuch und einen silbernen Stift heraus, aber natürlich nicht, um seine eigene Trauerfeier zu planen. Statt in beschissenem Selbstmitleid zu versinken, musste er sich um etwas anderes kümmern.
Und zwar um Erics Handgelenk.
Ihm war klar, dass er wiedergutmachen musste, was er angerichtet hatte. Ihm ging nicht aus dem Kopf, wie es sich angehört hatte, als das Handgelenk des Jungen gebrochen war. Scheiße. Noch nie hatte er einen Menschen absichtlich körperlich so schwer verletzt und doch war es ihm in diesem Moment als das einzig Richtige erschienen. Er hatte die Verwirrung in Milas Blick gesehen. Und da war dieses Bedürfnis in ihm gewesen, die Katastrophe zu stoppen, die mit ihrem Auftauchen hier in Paris ins Rollen gekommen war.
Das war der Grund gewesen, warum er sich wie ein brutaler Scheißkerl verhalten hatte. Darum hatte er durchgezogen.
Ein sarkastisches Lachen stieg in seiner Kehle auf.
Was für ein Idiot er war!
Deine Geschichte ist zu Ende erzählt, Nicholas. Das hatte Odette in den letzten Jahren mehr als einmal zu ihm gesagt. Sie hatte all das hier kommen sehen, während sich alle anderen, ihn selbst eingeschlossen, geweigert hatten, der Realität ins Auge zu blicken.
Odette war die Einzige gewesen, die sich nichts vorgemacht hatte, und er würde es ab jetzt auch nicht mehr tun.
Er würde wiedergutmachen, was er Eric angetan hatte, und dann konnte er sich immer noch seinem eigenen Abgesang widmen.
Er griff den Stift fester. Es waren nur ein paar Zeilen, für ihn eine leichte Fingerübung. Er begann zu schreiben, doch egal, welche Worte er wählte, um Erics Handgelenk zu heilen, etwas war anders als sonst. Das blaue Leuchten wollte sich einfach nicht einstellen.
Was zum Teufel war nur los? Es hatte doch bisher immer funktioniert! Es funktionierte bei Spielzeug, wie der Puppe der Kleinen am Eiffelturm, ebenso wie bei gebrochenen Knochen oder Wunden.
Nur, dass ausgerechnet jetzt nichts geschah.
Er legte das Notizbuch und den Stift neben sich auf die Kirchenbank. Dann drehte er seine Hand so, dass er die brennenden Schriftzeichen darauf sehen konnte. Mila stand dort noch immer.
»Hier bist du!« Über die geborstenen Fliesen der Krypta kam Luc auf ihn zu. Er deutete in Richtung Gewölbe, über dem der Friedhof lag. »Was zum Henker tust du?«
Nicholas hob den Kopf. »Den Schauplatz nutzen«, sagte er. »Ich mach mich schon mal mit dem Thema Tod vertraut.«
Wütend funkelte Luc ihn an und Nicholas ärgerte sich über seinen eigenen Spruch. Eigentlich war er sonst nicht der melodramatische Typ. Aber bei dem, was gerade geschah … »Schon gut«, murmelte er.
»Nichts ist gut!« Luc fegte sein Notizbuch beiseite und setzte sich zu ihm. »Dieser Typ, dieser Eric kommt in der Geschichte überhaupt nicht vor. Und viele Details sind bis jetzt ganz anders verlaufen, als du es geschrieben hast!« Er räusperte sich. »Ich meine: Das ist doch der Grund gewesen, warum du diesem Kerl die Hand gebrochen hast, nicht wahr? Weil du dir beweisen wolltest, dass es auch anders laufen kann. Dass deine Mutter Erfolg hatte mit …«
»Lass meine Mutter aus dem Spiel!«, warnte ihn Nicholas.
Luc zuckte mit den Schultern. »Dann eben, weil du dir beweisen wolltest, dass du nicht