Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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keine Ahnung, wem sie sie schicken würde.

      Vielleicht sogar ihrer Mutter.

      Was die wohl sagen würde, wenn sie wüsste, wo ihre ach so wohlbehütete Tochter genau in diesem Moment war?

      Vermutlich würde sie ausflippen.

      In Gedanken versunken, steckte Mila die Karte in ihre große Umhängetasche. Dann ging sie quer über die Straße zur berühmten Fontaine Saint-Michel, die sich an der Giebelwand eines Hauses befand, und betrachtete eine Weile lang die gehörnten und geflügelten Löwen rechts und links des Brunnens. Sie hatte nicht gedacht, dass das Bauwerk so monumental war.

      Noch immer ließ sie der Gedanke an ihren Vater und ihren Bruder nicht los. Isabelle hatte gestern Abend, nachdem ihr Mila vom Grund des Streits erzählt hatte, vorgeschlagen, ihre Gräber ausfindig zu machen. Schließlich mussten die beiden ja in Paris begraben sein. Erst war Mila davor zurückgeschreckt, aber inzwischen fand sie Gefallen an dem Gedanken. Vielleicht würde das Gleiche passieren wie heute in der Stadt – vielleicht würde sie sich ihrem Vater und Bruder an deren Grab nahe fühlen? Zugehörig?

      Sie wendete in Richtung der Rue Danton, als ihr Handy klingelte.

      Es war Helena.

      Das lachende Gesicht ihrer Mutter auf dem Display verursachte Mila ein schlechtes Gewissen. Vermutlich war ihre Mutter mittlerweile halb besinnungslos vor Sorge. Mit einem Seufzen wollte Mila den Anruf annehmen, doch genau in diesem Augenblick ging ihre Mailbox ran.

      Und nur zwei Sekunden später kam eine Nachricht. Mila war versucht, sie nicht zu lesen, aber als sie es doch tat, verspürte sie Erleichterung. Denn die Nachricht war nicht von Helena, sondern von Isabelle.

      Und die schrieb: »Unten bei Saint-Vincent gibt es einen neuen Club. Lust, tanzen zu gehen?«

      Ein Lächeln breitete sich auf Milas Gesicht aus. Isabelle hatte ein Timing wie keine andere. Es war, als hätte sie geahnt, in welcher nachdenklichen Stimmung Mila zu versinken drohte. Mila rief ihren Browser auf, um die nächste Metrostation ausfindig zu machen, die sie zurück nach Montmartre bringen würde.

      Nicholas stand mit dem Rücken gegen die Bar gelehnt da, trank einen Schluck von dem Whisky, den sie hier allen Ernstes mit bunten Schlieren aus Lebensmittelfarbe ausschenkten. Die Musik – eine Mischung aus Rock und Grunge – war laut und anstößig. Eine Menge Gestöhne. Pseudoerotische Texte. Die DJane sah mit ihrem eng anliegenden blutroten Kleid und den geflochtenen Zöpfen aus wie eine Mischung aus Morticia Addams und Alice im Wunderland. Und die Dekoration erinnerte an die Grabmale auf Père-Lachaise, wirkte aber trotz einer Menge Disconebel billig. Immerhin: Die Tanzfläche war gut gefüllt mit zuckenden, schwitzenden Leibern, die sich zu dem pulsierenden Beat bewegten, als hätte jemand sie unter Strom gesetzt. In der Luft lag der Geruch von verschüttetem Alkohol, Schweiß und überfordertem Deodorant.

      Le Cimetière. Der Friedhof. Nicholas hatte diesen Club wegen des Namens ausgesucht. Es erschien ihm passend für das, was geschah. Und auch passend für das, was er vorhatte. Sich zu betrinken und einfach zu vergessen.

      Die gestrige Nacht hatte er kaum geschlafen. Den Tag hatte er dann damit verbracht, die Schrift anzustarren, die sich quer über sein Handgelenk zog, und in den Büchern seines Vaters nach einer Rettung zu suchen. Natürlich vergeblich. Obwohl Caruels Sammlung von Werken über die Fabelmacht einen beträchtlichen Umfang hatte, fand sich in keinem der zumeist alten Werke auch nur der geringste Hinweis. Nicholas wusste das, denn er und sein Vater suchten seit Jahren fieberhaft danach.

      Schließlich hatte er dem Drängen seines besten Freundes nachgegeben und sich einverstanden erklärt, etwas trinken zu gehen. Er hatte darauf bestanden, die Bar aussuchen zu dürfen, so waren sie hier in Saint-Vincent gelandet. Und wenn alles so lief, wie Nicholas sich das vorstellte, würde er heute den Beweis antreten, ob die Geschichte sich verändern ließ oder nicht.

      Mit einer knappen Bewegung leerte er seinen Whisky und bestellte einen neuen, den vierten innerhalb der letzten Stunde. Der Barkeeper, ein lang aufgeschossener, dürrer Kerl, dem die Haut wie Pergamentpapier über den Schädel gespannt war, warf ihm einen gleichgültigen Blick zu. Er füllte ein Glas zu zwei Dritteln mit dem goldfarbenen Drink, aber als er zu den kleinen Fläschchen mit Farbe griff, wehrte Nicholas ab. »Lass das Zeug weg!«

      Der Barkeeper nickte, dann lächelte er, offenbar sehr einverstanden mit dieser Entscheidung. Nicholas nahm dem Mann das Glas ab, trank es zur Hälfte aus. Das Zeug schmeckte auch ohne Farbe nicht besser. Aber immerhin betäubte es den Schmerz an seinem Handgelenk. Er starrte auf die blaue Schrift, die gerade kaum zu erkennen war.

      »Meinst du nicht, dass du inzwischen genug hast?« Luc, der die ganze Zeit neben ihm gestanden und die Menge beobachtet hatte, musste seinen Mund dicht an sein Ohr bringen, damit er ihn verstand.

      Nicholas schüttelte den Kopf.

      Luc deutete auf den Tresen mit dem Whiskyglas. »Du willst dir beweisen, dass du die Geschichte im Griff hast und nicht sie dich.«

      Nicholas zuckte mit den Schultern.

      Luc verdrehte die Augen. »Komm mir nicht so! Ich kenne dich! Und ich kaufe dir deine gespielte Gleichgültigkeit nicht ab!« Er sah aus, als hätte er Nicholas am liebsten geschüttelt. Im flackernden Discolicht wirkte die Bewegung, mit der er sich die Stirn rieb, wie die eines Roboters.

      Er tat Nicholas leid. Schließlich meinte er es ja nur gut. Es musste Luc quälen, dass er seinem besten Freund nicht helfen konnte. Nicholas beobachtete ihn dabei, wie er mit den Fingerspitzen einen nervösen Rhythmus auf dem Bartresen trommelte, dann von seinem Whisky trank, sich mit der Zunge über die Lippen fuhr und noch einen Schluck nahm. Luc war noch nie gut darin gewesen, seine Emotionen zu verbergen, jedenfalls nicht vor Nicholas.

      Ein Mädchen in kurzem schwarzem Kleid lehnte an der anderen Seite des Tresens. Zum wiederholten Mal schaute sie nun schon in Nicholas’ Richtung. Er ließ ein paar Haarsträhnen in seine Augen fallen und das Mädchen lächelte, als sie es sah. Ihre Zähne leuchteten in dem flackernden Schwarzlicht.

      Mehr oder weniger mechanisch erwiderte er ihr Lächeln.

      Das Mädchen bewegte ihr Kinn einen Zentimeter nach oben und dann von ihm weg. Ein eindeutiges, wenn auch unbewusstes Signal an ihn.

       Komm doch rüber!

      Er rührte sich nicht. Er war nicht der Typ, der Frauen abschleppte, egal, wie mies drauf er sein mochte. Alkohol – ja. Aber Verzweiflungssex? Er musste an Mila denken. Verdammt, sein Drink war schon wieder leer. Als die Kleine ihn das nächste Mal anlächelte – fragend diesmal –, lächelte er nicht zurück.

      »Ich geh mal kurz pinkeln.« Luc deutete in Richtung Toiletten und als er weg war, wurde die Lücke, die er hinterließ, augenblicklich von einem Typen besetzt, in dessen Augen Koks und Irrsinn um die Vorherrschaft stritten.

      Er schien den Barkeeper gut zu kennen. »Hey, François«, schrie er gegen den Lärm an. »Seit ihr den Schuppen umbenannt habt, ist die Musik Dreck.« Er deutete auf das leere Glas in Nicholas’ Hand. »Und der Alk auch.«

      Nicholas horchte auf. »Umbenannt?«, mischte er sich ein.

      Der Kokser musterte ihn von Kopf bis Fuß, dann grinste er ihn ziemlich anzüglich an.

      Nicholas ignorierte es. »Umbenannt?«, wiederholte er. In seinem Hinterkopf läutete eine Alarmglocke. »Wie hieß der Laden denn früher?«

      Der Kokser schien seine plötzliche Anspannung zu spüren. »Hey, mach dich locker! Du bist hetero, das habe ich schon kapiert.«

      Nicholas ignorierte auch das. Er wandte sich fragend an den Barkeeper. Der griff wortlos nach einem silbernen Spender, der hinter ihm auf der Arbeitsfläche stand, zog eine der dünnen dunkelroten Servietten heraus und schob sie Nicholas herüber. Dann widmete er sich wieder seiner Arbeit.

      Nicholas nahm das billige Stück Papier, drehte es um. Er wurde blass, als er den alten Namen des Clubs las.

       Luna.

      Die Serviette rutschte beinahe durch seine