Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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bevor ich mit ihr spreche.«

      »Vielleicht.« Es war deutlich, dass Isabelle das nicht wirklich meinte.

      »Wenn ich sie jetzt anrufe und ihr sage, wo ich bin, flippt sie doch total aus! Aber wenn ich weiß, was mit den beiden passiert ist, kann ich vielleicht …« Mila zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Ahnung, was sie dann tun konnte. Aber in ihr meldete sich wieder dieser unbändige Wunsch, etwas über ihren Vater und ihren Bruder zu erfahren.

      »Ihr beide redet nicht viel über eure Gefühle, oder?«, murmelte Isabelle.

      Mila schüttelte den Kopf. »Ja und nein. Einerseits klammert sie extrem, ist so überbesorgt, dass man es kaum aushalten kann. Ständig will sie wissen, wie es mir geht, fragt, was ich fühle und so.«

      »Irgendwie verständlich, oder?«

      Ja, das war es. Immerhin hatte Helena schon ein Kind verloren.

      »Klar«, antwortete Mila. »Aber auf der anderen Seite spricht sie eigentlich nie über sich selbst. Sie packt alles, was sie empfindet, immer nur in ihre Bücher.«

      Rätselhafte Bücher, dachte sie. Völlig unverständliches, literarisches Zeug.

      Sie spürte selbst, wie traurig ihr Lächeln war. »Ich erinnere mich daran, dass wir mal gestritten haben und ich ihr vorgeworfen habe, wie sehr sie mich an eine lebende Statue erinnert. Völlig versteinert. Das war, nachdem eine Nachbarin von uns gestorben ist, eine alte Frau, die sich ein bisschen um mich gekümmert hat. Ich war untröstlich damals und ich habe meiner Mutter vorgeworfen, dass sie gar nichts zu empfinden schien. Weißt du, was sie mir geantwortet hat?«

      Isabelle schüttelte den Kopf. Sie saß jetzt ganz still. Ihr Ellenbogen lag auf ihrem Knie, ihre Pupillen waren weit und dunkel.

      »Sie hat gesagt, dass sie sehr wohl traurig ist. Und als ich sie gefragt habe, warum man das dann gar nicht merkt, hat sie gesagt, es käme ihr verschwendet vor, ihre Traurigkeit zu fühlen, statt Literatur daraus zu machen.« Mila schossen Tränen in die Augen. »Kannst du dir das vorstellen? Sie ist allen Ernstes der Meinung, sie verschwendet ihre Gefühle, wenn sie sie empfindet, statt über sie zu schreiben.«

      Isabelle schüttelte sachte den Kopf. »Also für mich klingt das eher, als würde sie nach einer Ausrede suchen, um keine Emotionen zuzulassen. Wer weiß, was es mit ihr gemacht hat, ihren Mann und ihr Kind zu verlieren. An so was sind schon viele zerbrochen.«

      Mila seufzte tief. »Ja. Wahrscheinlich hast du recht.« Sie schob den Teller mit dem Croissant von sich, griff nach ihrem Handy, ließ es aber sofort wieder los. »Habe ich eigentlich schon Danke dafür gesagt, dass ich hier bei dir sein darf?«

      »He! Wer weicht jetzt den schmerzhaften Themen aus?« Isabelle erhob sich. Sie umrundete den Tisch und zog Mila in ihre Arme. »Du kannst bleiben, so lange du willst, Süße. Das weißt du. Und wenn du möchtest, helfe ich dir rauszufinden, was mit deinem Vater und deinem Bruder passiert ist.«

      Die Umarmung und das unverhoffte Hilfsangebot verursachten Mila einen Kloß im Hals. »Wie willst du das anstellen?«

      »Pass auf.« Isabelle ließ sie los und schnappte sich ihr eigenes Handy, das neben ihrer Tasse lag. Sie wählte eine Nummer und als sich am anderen Ende jemand meldete, rief sie: »Victor! Ich bin’s! – Ja. Wirklich.« Sie lauschte, wie gesprochen wurde, und Mila brauchte einen Moment, bis sie zusammenbekam, mit wem ihre Freundin da redete. Victor war der Name des Typen, von dem Isabelle sich gerade erst getrennt hatte.

      »Ich weiß«, sagte sie. »Ja. Aber darüber sprechen wir ein andermal.« Sie warf Mila einen ziemlich komisch aussehenden, verzweifelten Blick zu und machte eine Geste, als wolle sie sich mit einem Strick um den Hals aufhängen. Dann wurde ihre Stimme merklich heller und ungeheuer schmeichelnd.

      »Hör mal, kannst du mir einen Gefallen tun? Ich sitze hier gerade mit einer Freundin zusammen, die nach Paris gekommen ist, um ein bisschen was über ihre Familie nachzuforschen. – Ich weiß, Victor, und das ist auch wirklich ein Riesengefallen, das ist mir ja klar. Aber wir kommen hier wirklich nicht weiter, wenn du uns nicht hilfst. – Ja. – Ob ich mit dir ausgehe, wenn du mir hilfst?« Sie wiederholte die Geste mit dem Strick. Diesmal ließ sie auch noch die Zunge heraushängen.

      Mila war gleichzeitig belustigt und unangenehm berührt, weil sie Victor so schamlos belog und ausnutzte.

      »Korrigier mich, wenn ich mich irre, aber hatten wir nicht … schon gut«, sagte Isabelle. »Also, ja. Aber du bezahlst!«

      Victor ließ einen längeren Wortschwall folgen, den Isabelle irgendwann einfach unterbrach.

      »Okay: Wir brauchen eine Information darüber, wo zwei Menschen gewohnt haben, die … warte …« Sie sah Mila an. »Wann sind sie genau gestorben?«

      »Ganz genau weiß ich es nicht. Aber meine Mutter muss hochschwanger mit mir gewesen sein. Kurz nach meiner Geburt ist sie dann aus Paris weg.« Mila nannte Isabelle ihr genaues Geburtsdatum und Isabelle gab es an Victor weiter.

      »Irgendwann um diese Zeit müssen die beiden gestorben sein. Ihre Namen lauten Jacques und Antoine Corbeil. Die Ehepartnerin war Helena Corbeil. Kannst du uns sagen, wo die Familie gewohnt hat?«

      Es folgte eine Pause am anderen Ende der Leitung. Isabelle nahm das Telefon vom Ohr und hielt es mit der flachen Hand zu. »Victor ist ein Ass am Computer. Der kommt in jedes Netzwerk, ich glaube, er hat sich sogar schon einmal in eine Behörde gehackt. Vielleicht findet er raus, wo die beiden gelebt haben.«

      Mila nahm sich wieder ihr Croissant und biss hinein, obwohl sie gar keinen Appetit verspürte. Anspannung ergriff sie, eine Art Kribbeln, wie Strom, der an ihre Wirbelsäule gelegt wurde. Was würde sie mit der Information anfangen, wo ihre Familie früher gelebt hatte? Sollte sie dorthin fahren und Nachbarn befragen? Die Vorstellung hatte etwas Aufregendes an sich und gleichzeitig war sie auch beängstigend. Sie dachte daran, wie hysterisch die sonst so beherrschte Helena immer reagiert hatte, wenn Mila sie nach ihrer Zeit in Paris gefragt hatte. Vielleicht gab es da etwas, das sie lieber gar nicht wissen wollte.

      Sie hatte das Croissant halb aufgegessen, als Victor an den Hörer zurückkehrte und Isabelle ihr zuzwinkerte. »Ja? – Gut. Warte einen Moment, ich hole mir nur was zum Schreiben.« Sie rannte in die Küche, holte einen Notizblock aus einer Schublade und knallte ihn auf die Arbeitsplatte. Schließlich schrieb sie eine Adresse auf und riss den Zettel vom Block. »Danke, Schatz!«, flötete sie anschließend. »Melde dich, ja? Dann machen wir etwas aus.« Sie legte auf, bevor Victor noch etwas sagen konnte. »Tadaa!« Triumphierend präsentierte sie Mila den Zettel. »Wir wissen jetzt, wo sie damals gewohnt haben.«

      Mila war sich noch immer nicht sicher, was sie mit dieser Information anfangen sollte. Sie stand auf, nahm Isabelle den Zettel aus der Hand und starrte auf die Adresse, die Isabelle mit ihrer kaum leserlichen Handschrift geschrieben hatte.

       41 Rue Madame.

      »Wo ist das?«, fragte sie.

      Isabelle hatte schon auf ihrem Handy nachgeschaut. »In Notre-Dame-des-Champs, ganz in der Nähe des Jardin du Luxembourg.« Sie blies sich gegen die Stirn. »Deine Eltern scheinen ziemlich betucht gewesen zu sein. Das ist eine sauteure Wohngegend.«

      Betucht? Mila dachte an ihre Dreizimmerwohnung in Berlin, die nicht wirklich nach Reichtum aussah.

      Isabelle wartete, was sie nun sagen würde, und während die Sekunden verstrichen, keimte in Mila tatsächlich der Wunsch auf, sich das Haus anzusehen, in dem ihre Eltern damals gelebt hatten. Sie wusste nicht, ob sie wirklich für das gewappnet war, was da auf sie zukam, aber wenigstens würde es sie von dem ablenken, was gestern Abend in dem Club passiert war.

      Isabelle grinste breit. »Also?«

      Mila blickte an ihrem Schlafshirt hinab. »Ich gehe duschen. Und dann fahren wir in die Rue Madame.«

      Isabelles Grinsen verwandelte sich in ein fröhliches Lachen. »Das ist mein Mädchen!«, rief sie aus.

      41 Rue Madame erwies sich als eines dieser typischen dreistöckigen Pariser Stadthäuser