Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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zeigten magersüchtige Frauen mit Haaren in Bordeauxrot und knalligem Violett. Direkt gegenüber lag eine Grundschule, deren Hof von einer hohen Mauer aus gelbem Backstein umgeben war. Es war gerade Pause und da in Frankreich die Sommerferien erst Anfang August begannen, war der Schulhof voll mit lärmenden Kindern. Als Mila das Gesicht der Sonne zuwandte und die Augen schloss, hörte es sich an, als sei sie in einem Freibad. Sie stellte es sich einen Moment lang vor.

      Dann jedoch konnte sie es nicht mehr länger hinauszögern. Sie öffnete die Augen wieder, richtete sie auf die doppelflüglige Eingangstür aus dunklem Holz. Hinter dieser Tür hatten ihre Eltern gelebt. Und durch sie war ihr Vater vermutlich auch an jenem Tag gegangen, an dem er gestorben war. Und ihr Bruder. Sie wusste nicht einmal, wie viel älter als sie er gewesen war.

      Ihre Kehle zog sich zusammen.

      Sie ließ den Blick an der dreistöckigen Fassade nach oben wandern. Hinter welchem dieser Fenster hatte wohl ihre Wohnung gelegen? Vielleicht im ersten Stock, wo jetzt mehrere Blumentöpfe auf den Fensterbänken standen, oder vielleicht auch ganz oben. Mila stellte sich vor, wie ihre Mutter dort an einem Schreibtisch gesessen hatte, von dem aus man hinunter in den Schulhof schauen konnte. Ihr wurde noch elender zumute. Es fühlte sich an, als könne sie den Geist ihres Vaters hier herumschleichen spüren und er würde ihr seinen kalten Atem in den Nacken blasen. Sie umklammerte sich selbst mit beiden Armen und fröstelte.

      Isabelle stand neben ihr und wartete, bis ihre Beklommenheit sich legte. Als Mila sie unsicher anschaute, lächelte sie aufmunternd.

      Rechts neben der Tür war ein Klingelbrett angebracht. Eine Reihe Namen. Natürlich lautete keiner davon Corbeil.

      Mila zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Und dann, ohne weiter nachzudenken, drückte sie einfach auf eine der unteren Klingeln.

      Isabelle trat ein Stück näher an sie heran. Es dauerte einige Augenblicke, dann ertönte der Türsummer. Mila stieß den rechten Türflügel auf und fand sich in einem dunklen, kühlen Flur wieder, in dem drei Stufen zu den ersten beiden Wohnungen hinaufführten. Der Boden war in schwarz-weißem Schachbett-muster ausgelegt, die Briefkästen auf der rechten Seite schienen noch aus der Zeit zu stammen, in der das Haus gebaut worden war. Sie waren dunkelgrün lackiert und reich verziert. Aus einem ragten ein ganzer Wust Prospekte und ein großer brauner Umschlag hervor.

      Zögernd ging Mila die drei Stufen hoch. In der Wohnungstür rechts stand eine sehr alte, dickliche Frau und blickte ihr neugierig entgegen. »Ich dachte, Sie sind der Postbote«, sagte sie statt einer Begrüßung. Sie hatte eine Stimme, die wie Blätterrascheln klang.

      »Nein.« Mila trat näher und räusperte sich unbehaglich. »Nein, tut mir leid. Mein Name ist Émilie Corbeil. Ich bin …«

      »Corbeil!« Das rundliche Gesicht der Frau verdüsterte sich. »Sind Sie etwa mit Helena und Jacques Corbeil verwandt, die früher hier gelebt haben?«

      Mila nickte, gleichzeitig überwältigt davon, dass es so einfach war, und erschrocken, weil die Frau plötzlich abweisend wirkte. Isabelle legte ihr eine Hand unter den Ellenbogen, als könne sie spüren, dass Milas Knie angefangen hatten zu zittern.

      »Dann kannten Sie meine Eltern?« Mila versuchte, sich an den Namen auf ihrem Klingelschild zu erinnern. E. Fourier hatte dort gestanden.

      Die alte Frau musterte sie von Kopf bis Fuß. »Sie müssen das Mädchen sein, das Helena zur Welt gebracht hat, kurz bevor sie Paris verlassen hat.«

      Mila nickte. Noch immer wirkte Madame Fouriers Gesicht misstrauisch und verschlossen. Wenn sie Milas Eltern tatsächlich gekannt hatte, dann hatte sie definitiv keine guten Erinnerungen an sie. »Bitte!«, rief Mila. »Sie müssen mir …«

      »Gar nichts muss ich! Helena und Jacques waren sonderbare Zeitgenossen. Keine Ahnung, wie sie sich eine Wohnung in diesem Stadtviertel leisten konnten. Gearbeitet haben sie zumindest beide nicht – wenn man mal davon absieht, dass sie immerzu an irgendwelchen Büchern schrieb und ständig die sonderbarsten Leute mit hierherbrachte.« Madame Fourier wies gen Decke. Sie war einen halben Kopf kleiner als Mila und in einen grauen Rock und einen rosafarbenen Strickpullover gekleidet, der ihr lose über die rundlichen Hüften fiel. Aus ihrer Wohnung drang ein atemberaubender Geruch nach Lavendel und Kampfer, der ganz hinten in der Kehle kratzte. Irgendein Vogel zwitscherte in einem der Räume mit den hohen, stuckverzierten Decken.

      »Wissen Sie jemanden, der die beiden besser gekannt hat?«, fragte Mila. »Wissen Sie, wie mein Vater gestorben ist?«

      Jetzt endlich wurde Madame Fouriers Miene ein bisschen weicher. Mila konnte nicht entscheiden, ob das daran lag, dass sie Mitleid mit ihr hatte, oder aber, ob sie einfach nur Gefallen an dem morbiden Thema fand. »Das hat nie jemand erfahren, Kind. Aber es war sehr seltsam, das können Sie mir glauben.« Sie zog ihren Pullover vor dem Bauch nach unten, sodass sich die rosarfarbenen Maschen dehnten. »Also, wenn Sie mich fragen, dann hat diese Frau, Ihre Mutter, nicht mehr alle Tassen im Schrank gehabt. Ich meine: Wer schreibt denn Buch um Buch über diesen schrecklichen Friedhof? Mein Maurice hat mal versucht, eines davon zu lesen. Seiner Meinung nach ist der arme Mann von seiner Frau in den Tod …« Ihr schien schlagartig bewusst zu werden, mit wem sie hier sprach, denn sie unterbrach sich mitten im Satz. Ihr Gesicht wurde vor Verlegenheit puterrot, dann wich sie in ihre Wohnung zurück. »Gehen Sie lieber!«, verlangte sie.

      Mila klingelten die Ohren.

      Hatte diese alte Schachtel tatsächlich behaupten wollen, Helena habe ihren Vater in den Tod getrieben?

      Mila legte die flachen Hände an ihre Wangen. »Mein Bruder …« Sie konnte jetzt nur noch flüstern, aber Madame Fourier schien genug geredet zu haben.

      »Gehen Sie!«, wiederholte sie. Dann schlug sie ihr die Tür vor der Nase zu und Mila stand da wie mit eiskaltem Wasser übergossen.

      »So viel dazu«, murmelte Isabelle. Ihre Hand wanderte erneut unter Milas Ellenbogen.

      Die Kinder auf dem Schulhof lärmten noch immer, als Mila begleitet von ihrer Freundin wieder hinaus in den Sonnenschein trat. Jetzt jedoch hörte sich das Lachen und Kreischen fern und dumpf an. Jemand schien Watte in Milas Ohren gestopft zu haben.

      »Alles in Ordnung?«, hörte sie Isabelle fragen.

      Mechanisch nickte sie. Und nun? Was hatte sie mit ihrer Idee hierherzukommen erreicht? Nichts, außer dass sich zu den Rätseln, die Helena ihr sowieso schon aufgegeben hatte, noch ein weiteres gesellt hatte. Ob etwas dran war, dass ihre Mutter ihren Vater in den Tod …? Nein! Das war doch nur das boshafte Gequatsche einer missgünstigen, alten Frau! Mila verbannte es aus ihren Gedanken und ließ ihren Blick über die Klingeln schweifen. Vielleicht hatten neben Madame Fourier noch andere Bewohner dieses Hauses ihre Eltern gekannt. Aber selbst wenn das der Fall war, Mila wusste, dass sie nach der Begegnung mit der ehemaligen Nachbarin weitere Gespräche über das Thema erst einmal nicht ertragen würde. Ihr sehnlichster Wunsch war, sich in irgendein kleines Lokal zu setzen, einen Milchkaffee zu trinken und ihre wirbelnden Gedanken zu beruhigen.

      Und genau das taten sie auch. Sie suchten sich eine Crêperie in der Rue de Médicis mit Blick auf den Jardin du Luxembourg und ließen sich so erschöpft auf die schmiedeeisernen Stühle fallen, als hätten sie die gesamte Stadt im Laufschritt durchquert.

      Milas Herz jagte noch von den Worten der alten Frau, aber nachdem sie etwas getrunken und ihre flatternden Nerven mit einem großen Stück Nusskuchen beruhigt hatte, ging es ihr langsam besser.

      »Glaubst du wirklich, dass deine Mutter …«

      Mila hob die Hand und brachte Isabelle damit zum Schweigen, bevor sie ihre Frage ganz ausgesprochen hatte. »Nimm es mir nicht übel«, sagte sie. »Aber ich brauch erst einmal eine Pause. Am liebsten würde ich eine Weile an etwas ganz anderes denken.«

      Isabelle nickte verständnisvoll.

      Milas Bilck fiel auf einen Souvenirladen gegenüber, der außer blinkenden Eiffeltürmen, Postkarten und Regenschirmen auch Poster mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt verkaufte. »Weißt du, was?«, sagte sie. »Für den Rest des Tages werde ich einfach eine ganz normale Touristin sein.«

      Maréchal