Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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nicht nur an der Flasche Rotwein, die er gestern Abend getrunken hatte, sondern auch am Auftauchen dieses geheimnisvollen Alten im grauen Mantel.

      Während er ein paar Bücher wegsortierte, die eine junge Studentin sich angesehen hatte, dachte Maréchal daran, wie er vorgestern versucht hatte, nähere Informationen aus dem Alten herauszubekommen. Warum hatte er bei dessen Anblick sofort gewusst, dass es um Nicholas und seine Geschichte ging? Was wusste der Alte selbst über alles? Und nicht zuletzt: Wer war er? Doch der alte Mann hatte keine von Maréchals Fragen beantwortet. Er war einfach davongegangen und Maréchal hatte nichts weiter tun können, als ihm verblüfft nachzuschauen.

      Sein nächster Kunde heute Morgen war ein etwa vierzigjähriger Mann. Er blätterte eine Weile lang durch die Taschenbuchausgaben alter Kriminalromane von Georges Simenon, entschied sich dann allerdings für einen zerlesenen Bildband über die Katakomben. Maréchal gab ihm eines seiner Zettelchen und mit einem Lächeln im Gesicht sah er zu, wie der Mann im Weitergehen das Gedicht las, das Blatt dann zusammenfaltete und in sein Buch steckte.

      Die Welt drehte sich weiter. Egal, was mit Nicholas passierte.

      Als Maréchal sich nach dem Gespräch mit dem Kunden in die andere Richtung wandte, sah er ein junges Mädchen aus einer kleinen Seitengasse kommen, den Quai Saint-Michel überqueren und dann in direkt in seine Richtung steuern.

      Sie war hübsch auf diese besondere Weise, die nicht von teurer Kleidung oder Schminke kam, sondern völlig natürlich wirkte. Sie hatte wirre blonde Locken und einen blassen, ebenmäßigen Teint. Die Art, wie sie daherging in ihren flachen Schuhen und mit den über den Knöcheln hochgekrempelten Beinen ihrer Jeans, hatte etwas Beschwingtes, Lebendiges.

      Eine junge Frau mit roten Haaren war bei ihr und die beiden unterhielten sich angeregt, aber irgendwie ernsthaft. Maréchals Blick konnte sich nicht von dem Mädchen lösen, das ein paar Stände weiter stehen blieb und die Bücher anschaute. In seinem Kopf entstand ein Summen.

      Das Mädchen, hörte er wieder den geheimnisvollen Alten sagen. Sie kommt gerade auf dem Gare de l’Est an. Und: Nicholas’ Geschichte. Sie beginnt.

      Konnte es sein …?

      Er sah zu, wie das Mädchen mit seinem Buchhändlerkollegen über den Preis für ein altes Buch verhandelte. Der Kollege war sichtlich angetan von ihr, das war deutlich zu erkennen. Er scherzte und flirtete, wie er das mit anderen Kundinnen sonst nur selten tat.

      Trotz allen Flirtens wurden er und das Mädchen sich aber über den Preis nicht einig. Das Mädchen stellte das Buch zurück, dann machte ihre Freundin einen Scherz, über den sie alle drei lachten. Und nur wenige Sekunden später traten die beiden an Maréchals Stand.

      Sein Blick und der des Mädchens begegneten sich und Maréchals Herz wurde schwer.

      Sie hatte Helenas Augen.

      Hellblau, mit langen, seidigen Wimpern. Fünf der Sommersprossen auf ihrer Wange bildeten die Form eines unregelmäßigen Ws, ganz ähnlich dem Sternbild der Kassiopeia.

      »Guten Tag, Monsieur«, sagte sie ganz unbefangen und dann ging ihr auf, dass er sie anstarrte. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte sie und wischte sich reflexartig über die Wange.

      Er schüttelte den Kopf. Auch ihre Stimme ähnelte der von Helena. Du liebe Zeit! »Nein«, beeilte er sich zu sagen und legte seine Hand auf sein Herz. »Nein. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht anstarren. Du erinnerst mich nur an eine alte Freundin.«

      Sie nickte lächelnd und wandte sie sich seinen Auslagen zu. Eine ganze Weile lang ließ sie den Blick einfach über die zahllosen Rücken schweifen und als sie sich dazu entschied, eines der Bücher in die Hand zu nehmen, tat sie es mit einem Ausdruck von Ehrfurcht, der sie Maréchal auf Anhieb sympathisch machte.

      Der Band, für den sie sich entschieden hatte, war jener von Baudelaire, den die junge Frau mit dem Turban und den stark geschminkten Augen vorgestern wieder weggelegt hatte.

      Das Mädchen schlug ihn beim Inhaltsverzeichnis auf und überflog es kurz. Dann blätterte sie bis zu einer bestimmten Stelle.

      Ihre rothaarige Freundin schaute ihr über die Schulter. »Herbstende! Winter! Frühling mit schlammigem Eise?«, fragte sie.

      Das Mädchen nickte. »Das war das Gedicht, mit dem dieser Eric mich vorgestern eingewickelt hat. Kurz bevor er mich beklaut hat und Nicholas gekommen ist.« Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht und plötzlich kam sie Maréchal schutzbedürftig und zerbrechlich vor.

       Nicholas.

      Hatte er eine Gewissheit gebraucht? Seit dem Besuch des alten Mannes hätte ihm klar sein müssen, was passieren würde. Aber er hatte es vor sich selbst geleugnet, hatte mit seiner ganzen Kraft gehofft, dass dieser Kelch an ihm vorbeigehen würde. Unaufhörlich hatte er seitdem an Nicholas denken müssen. Und an Zoë. Vor allem aber an seine eigenen Albträume, die er seit Langem überwunden geglaubt hatte.

      Er kratzte sich den Bart und sah dabei zu, wie das Mädchen den Preis des Baudelaire-Bandes las. Welchen Namen trug sie in Nicholas’ Geschichte? Mila. Er blinzelte, als sie mit einem bedauernden Ausdruck das Buch wieder wegstellte.

      »Zu teuer?«, wollte er wissen. Er musste sich räuspern, bevor er sprechen konnte.

      Sie nickte. Dann lächelte sie schüchtern, so, als sei es ihre Schuld. »Wollen wir weiter?«, wandte sie sich an ihre Freundin.

      Die nickte. »Notre-Dame ist gleich dahinten. Nur noch über die Brücke und dann sind wir da.«

      Das Mädchen wischte sich eine Locke aus dem Gesicht. »Gott sei Dank. Mir tun ganz schön die Füße weh.« Sie hakte sich bei ihrer Freundin ein, wünschte Maréchal einen schönen Tag und setzte ihren Weg fort.

      Maréchal sah den beiden nach. Als das Mädchen auch beim nächsten Bücherstand stehen bleiben wollte, hörte er ihre Freundin rufen: »Himmel, Mila! Wie viele Bücher kann man denn noch betrachten?«

      Und als die beiden scherzend die Petit Pont überquerten und den großen, von sauber gestutzten Rasenflächen und blühenden Blumenbeeten umgebenen Platz vor der Kathedrale betraten, stand Maréchal immer noch wie vom Donner gerührt an seinem Platz.

      Mila.

      Der Alte im grauen Mantel hatte also recht gehabt.

      Es begann.

      Zitternd griff Maréchal nach dem Baudelaire-Band und schrieb etwas auf die erste Seite. Mit einem eisigen Gefühl im Magen klemmte er das Buch unter den Arm, schloss seinen Stand ab und folgte Mila und ihrer Freundin.

      Notre-Dame war der absolute Hammer. Schon in dem Augenblick, als Mila das hoch aufragende Kirchenschiff betrat, war sie von der Atmosphäre völlig verzaubert. Das Licht, das durch die oberen Fenster der Lichtgaden fiel, hatte einen überirdischen Schimmer, der die gesamte Atmosphäre in der Kirche geheimnisvoll wirken ließ.

      Vorne im Chor sang eine kleine Gruppe ein altes Kirchenlied und die Stimmen der Sänger unterstrichen noch das Magische dieses Ortes.

      Eine Weile lang wanderte Mila einfach umher, nahm die Stimmung in sich auf und genoss das Prickeln, das sie ihr verursachte.

      Sie hatte es schon immer geliebt, in Kirchen zu sein. Warum das so war, wusste sie nicht genau, denn im Grunde war sie nicht besonders gläubig. Aber viele Kirchen hatten etwas an sich, das sie tief in ihrem Herzen berührte. Und Notre-Dame war da keine Ausnahme. Eher das Gegenteil. Nach der Aufregung über ihren Vater und Bruder und nach dem, was gestern mit Nicholas passiert war, tat es einfach gut, hier zu sein.

      Vor einer Tür vorn rechts vom Chor, ganz in der Nähe der Sakristei, blieb sie stehen. Ihr Blick war davon angezogen worden, sie wusste nicht, warum. An der Tür war nichts ungewöhnlich, sah man mal davon ab, dass sie relativ niedrig war – und nicht so ganz zum Rest der Kirche zu passen schien. Sie war nicht aus Holz, sondern aus Metall gefertigt. Und kreuz und quer darüber liefen dünne Messingbänder, die einen angelaufenen Goldton hatten.

      Alles in allem nur eine Tür.

      Während