Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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zugewachsenen wurde sie schließlich fündig.

      Von uns genommen durch großes Unglück, stand in messingfarbenen Buchstaben darauf.

      Und darunter zwei Namen.

      Jacques Corbeil.

      Und Antoine Corbeil.

      Ihr Vater. Und ihr Bruder.

      Obwohl Helena in den vergangenen Tagen so oft versucht hatte, Mila zu erreichen, dauerte es jetzt verblüffend lange, bis sie ans Telefon ging. Mila ließ es bestimmt zwanzig Mal klingeln und sie wollte gerade auflegen, als am anderen Ende doch noch abgehoben wurde. »Mila?« Ihre Mutter klang atemlos.

      »Ja«, sagte Mila und dann wusste sie nicht mehr weiter. Mit ziemlich zitterigen Knien ließ sie sich auf eine der ganz alten Grabplatten fallen, von denen aus sie die beiden Namen auf dem Grabstein lesen konnte. Und als sie hörte, wie ihre Mutter in unendlicher Erleichterung »Gott sei Dank!« ausstieß, kam sie sich gemein und egoistisch vor.

      »Mama«, murmelte sie.

      »Ja, Schatz. Ist alles in Ordnung?«

      Mila starrte den Spruch auf dem Grabstein an.

       Von uns genommen durch großes Unglück.

      Die Schrift tanzte vor ihren Augen.

      »Ja«, beeilte sie sich zu versichern. »Ja. Natürlich.«

      »Du klingst so komisch. Ist was passiert, Schatz?«

      »Nein. Was soll passiert sein? Ich wollte mich nur kurz melden, um dir zu sagen, dass alles in Ordnung ist.«

      Warum lüge ich?, schoss es Mila durch den Kopf. Als sie Helenas Nummer gewählt hatte, hatte sie das Bedürfnis gehabt, ihr zu sagen, wo sie war. Sie hatte Helena alles anvertrauen wollen, was in den letzten Tagen geschehen war, und sie um Rat fragen. Aber als sie die atemlose Stimme ihrer Mutter hörte, hielt etwas sie davon ab.

      In ihrem Magen saß ein kleiner, fester Knoten, der richtig wehtat, und als Helena hervorstieß: »Himmel, Mila, ich bin fast umgekommen vor Sorge!«, da war da auch wieder dieser alte Widerwille, bemuttert zu werden.

      Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie Helena angerufen hatte. Wie sollte sie sich je wie eine richtige Erwachsene fühlen, wenn sie beim ersten Anzeichen von Problemen flennend zu ihrer Mutter rannte?

      »Sag mir, wo du bist, Mila!«, beschwor Helena sie. »Ich komme dich abholen.«

      Genau das hatte sie früher oft gesagt, wenn Mila bei irgendwelchen Schulfreunden zum Spielen gewesen war. Mila hatte es gehasst, wenn die anderen sie damit aufzogen, dass sie wie eine Prinzessin herumkutschiert wurde. Gedankenverloren wanderte ihre Hand in ihre Tasche und tastete nach dem Band mit Baudelaire-Gedichten. »Was ist die Fabelmacht?«, stieß sie hervor.

      Ein ganz leises Keuchen war die einzige Antwort, die sie erhielt. Dann Schweigen. Unendlich lang. Eine Stille, in der Mila den Atem ihrer Mutter hören konnte und ihren eigenen Herzschlag, der klang wie der Hufschlag eines Pferdes, das in vollem Galopp dahinjagte.

      »Wo bist du, Mila?«, fragte ihre Mutter erneut. »Sag nicht, du bist in Paris!«

      Milas Hände hatten angefangen zu zittern.

      »Bist du in Paris, Mila?« Etwas vibrierte in Helenas Stimme, das Mila eine Heidenangst einjagte.

      Sie wusste sich nicht anders zu helfen. Sie legte einfach auf. Dann starrte sie auf das Display ihres Handys und als das Foto von ihr selbst und ihrer Mutter anzeigte, dass Helena versuchte, sie zurückzurufen, schaltete sie das Telefon ab.

      Eine Weile lang wanderte sie ziellos über den Friedhof und ließ ihre Blicke über all die Gräber schweifen. So viele Tote aus so vielen Jahrhunderten. Sie las Inschriften, die ganze Lebensgeschichten erzählten, und Inschriften, die aus nichts weiter bestanden als dem Namen und dem Todesdatum. Die meisten Gräber waren verwahrlost und verfallen, so, als seien auch die Hinterbliebenen der Toten seit Langem verstorben. Aber manchmal sah Mila auch frische Blumen und kleine Figuren oder gerahmte Bilder, die Szenen aus glücklicheren Zeiten zeigten. Auf einen schlichten Grabstein aus grauem Marmor, über dem ein moosbewachsener Engel wachte, hatte der Steinmetz nur zwei Worte geschrieben: Geliebtes Eheweib. Kein Name hier und auch kein Datum.

      Der Anblick schnürte Mila die Kehle zu und sie fröstelte unter den uralten Bäumen, die alles überschatteten. Sie streckte die Hand nach dem Engel aus und berührte ihn an der Schulter. Fast war es, als übertrage sich die Trauer aus dem ebenmäßigen Gesicht der Statue auf sie. Plötzlich erfasste sie eine tiefe und unbändige Traurigkeit und ihr schossen Tränen in die Augen, denen sie freien Lauf ließ.

      »Es ist verständlich, dass du durcheinander bist.« Die Stimme erklang so unvermittelt hinter ihr, dass sie vor Schreck einen leisen Schrei ausstieß und herumwirbelte.

      Vor ihr stand der weißhaarige Buchhändler.

      Als er sah, wie erschrocken sie war, hob er beide Hände. Ein beruhigendes Lächeln glitt über sein bärtiges Gesicht. »Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen!«

      »Haben Sie aber.« Sie war drauf und dran, sich die Tränen fortzuwischen, doch ihre Hände rochen nach Moos von der Engelsfigur. Also nahm sie den Ärmel ihrer Strickjacke und wischte mit ihm über ihre Augen.

      »Entschuldige.« Der Buchhändler stand da, als habe er einem spontanen Impuls nachgegeben und sie angesprochen und wüsste jetzt nicht, wie es weitergehen sollte.

      »Verfolgen Sie mich?«, fragte Mila.

      Er schüttelte den Kopf. Dann jedoch lächelte er verlegen. »Nun. Vermutlich doch.«

      Milas Herz begann zu klopfen. Das Wetter war schön und der Friedhof wimmelte von Leuten, aber das Gelände war auch sehr weitläufig, sodass die Menschen sich in den unzähligen schmalen Gängen verliefen. Außerdem schienen sich in diesen Bereich nur wenige Touristen zu verirren und darum fühlte es sich an, als sei Mila mit dem Buchhändler völlig allein.

      Was, wenn er ihr etwas antun wollte?

      Sie musterte ihn, seine ausgebeulte Cordhose, die alte Strickjacke, die schneeweißen Haare, den Bart. Er wirkte eigentlich ganz harmlos, oder?

      Trotzdem wich sie einen Schritt zurück. »Sie haben mir dieses Buch geschenkt. Warum? Und der Satz auf der ersten …«

      »Lass uns ein Stück gehen, Kind«, sagte er behutsam. »Wärst du so freundlich?«

      Sie dachte daran zu protestieren, aber er wandte sich einfach um und ging voraus. Zögernd folgte Mila ihm, immer noch nicht sicher, ob sie das für eine gute Idee halten sollte.

      Er ging mit ihr eine Allee entlang und bog dann ab. Kurz darauf blieb er vor einem größeren Grabmal stehen, einer richtigen Gedenkstätte, die allerdings in einem schlechten Zustand war. Ein brusthoher, schmiedeeiserner Zaun umgab sie, wohl um Vandalen fernzuhalten. Allerdings machte das Ding seinen Job nicht besonders gut. Bierdosen, Chipstüten und Zigarettenkippen lagen innerhalb der Umzäunung. An einer Stelle des schmalen Rasenstreifens, der das Grab an allen vier Seiten umgab, war eine alte Feuerstelle errichtet. In der Asche lag eine geborstene Wodkaflasche.

      Das Grabmal selbst bestand aus einer Art doppelgiebligem Tempel, unter dessen Dach zwei Steinfiguren lang ausgestreckt dalagen. Eine dieser Figuren zeigte eine Nonne, die andere einen Mönch mit Tonsur. Beide Figuren hatten die Hände vor der Brust zum Gebet gefaltet.

      »Was sollen wir hier?«, stieß Mila hervor.

      Jemand hatte mit dunkelroter Farbe ein unleserliches Graffito unter die Füße der Nonne gesprüht. Und zwischen den beiden Steinfiguren lag eine einzelne langstielige rote Rose.

      »Du hast viele Fragen. Lass uns sehen, welche davon ich dir beantworten kann«, sagte der Buchhändler bedächtig.

      Er umrundete die Umzäunung und blieb vor einer Pforte stehen. Eine rostige Eisenkette hätte eigentlich den Eingang zum Grabmal sichern sollen, aber sie hing nutzlos an dem Pfosten neben der kleinen Tür. Das Vorhängeschloss daran war uralt und so rostig, dass