Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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      »Was glaubst du?«

      »Caruel!« Maréchal versuchte, sich seine Verunsicherung nicht anmerken lassen. Natürlich! Milas Verfolger kannten die ganze Geschichte.

      Und er Idiot hatte das nicht einkalkuliert.

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      Auf dem Gare de l’Est war es genauso laut und so chaotisch wie vor ein paar Tagen, als Mila in Paris angekommen war. Die Züge fuhren mit kreischenden Bremsen ein, die Lautsprecherdurchsagen plärrten ihre Informationen heraus, Menschen redeten, lachten und stritten miteinander.

      An einem der feuerwehrrot lackierten Snackautomaten stand ein Geiger und spielte mit seligem Lächeln im Gesicht gegen den Lärm an. Mila kannte das Stück nicht, aber es klang schön.

      Friedlich.

      Etwas abseits blieb sie stehen und versuchte, sich an der Musik festzuhalten, die ein Gegengewicht bildete zu all den Dingen, die in ihrem Kopf kreisten.

      Das Grab von ihrem Vater und Bruder. Von uns genommen durch großes Unglück. Dieser Maréchal und die Typen, die mit einer Waffe unter dem Arm hinter ihr her waren. Ob die Männer in den Lederjacken Maréchal etwas angetan hatten? Dann Nicholas … Warum war er auf dem Friedhof gewesen? Und nicht zuletzt: Was zum Teufel hatte es mit dieser geheimnisvollen Fabelmacht auf sich, von der der Buchhändler geredet hatte?

      Eine sehr, sehr alte Gabe, hatte er sie genannt.

      Erschöpft rieb sie sich die Augen.

      Am liebsten wäre sie zu Isabelle nach Hause gefahren und hätte sich bei ihr verkrochen. Aber immerhin hatten die beiden Verfolger sie auf dem Friedhof gefunden. Es bestand also durchaus die Möglichkeit, dass sie sie auch bei Isabelle finden würden. Und da Mila nicht wusste, ob sie ihre Freundin in Gefahr bringen würde, hatte sie keine andere Lösung gewusst, als hierherzukommen in der Hoffnung, Eric zu treffen.

      Ihm kannst du vertrauen, hatte Maréchal gesagt.

      Ihr Blick wanderte hinauf zu den kitschigen Kinoplakaten über ihrem Kopf und sie musste an ihren ersten Tag in Paris denken. Dort drüben, vor dem Obststand, hatte sie Nicholas das erste Mal auf sich zukommen sehen.

      Nicholas. Ob sie ihm mit ihrem Schlag ins Gesicht sehr wehgetan hatte? Es hatte sich angefühlt, als hätte sie ihm die Nase gebrochen.

      Maréchal hatte gesagt, der Kerl mit der Waffe gehörte zu einem Villain Caruel. Gehörte Nicholas auch zu ihnen?

      So viele Fragen und sie hatte keine Ahnung, wo sie Antworten herbekommen sollte.

      Bevor sie darüber weiter nachdenken konnte, erhielt sie einen schmerzhaften Stoß gegen die Beine und stolperte erschrocken ein Stück zur Seite. Aber es war nur ein Kinderwagen, der sie gerammt hatte. Eine Frau, die mindestens hundertzwanzig Kilo wog, schob ihn vor sich her wie einen Rammbock, mit dem sie die Menschenmenge zerteilte. »Pass doch auf!«, zischte sie.

      »Du mich auch«, erwiderte Mila. Urplötzlich überkam sie Mutlosigkeit. Wie sollte sie in diesem Gewimmel Eric finden? Es war eine idiotische Idee gewesen hierherzukommen.

      Der Geigenspieler setzte sein Instrument ab, bückte sich zu der Sporttasche, die er neben seinen Füßen stehen hatte, und trank einen Schluck aus einer Wasserflasche. Als er sich wieder aufrichtete, zwinkerte er Mila zu und begann, ein neues Lied zu spielen. Er hatte lange blonde Haare, die er offen trug, und einen D’Artagnan-Bart.

      »Ich liebe dich«, sagte plötzlich eine vertraute Stimme hinter Mila.

      »Eric!« Sie fuhr herum und dabei erst wurde ihr bewusst, was er gesagt hatte. »Hä?«, fragte sie.

      Er grinste breit. Dann deutete er auf den Geigenspieler. »Ich liebe dich. So heißt das Lied. Von Beethoven.«

      »Ah«, machte sie und kam sich dämlich vor. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte, dass sie ihn gefunden hatte, oder erschrocken, weil er viel zu dicht bei ihr stand. Sag irgendwas!, ermahnte sie sich. Sie suchte nach einem Gips an seiner Hand, aber da war keiner. »Ich dachte, er hätte dir den Arm gebrochen«, murmelte sie.

      Eric drehte das Handgelenk im Kreis, als könne er selbst es nicht glauben, dass es nicht der Fall war. »Ja. Das war sonderbar.«

      »Was?« Etwas spannte sich in Mila an.

      »Zuerst hat es sich wirklich so angefühlt, als wäre es gebrochen. Aber dann ist der Schmerz plötzlich weggegangen. Wahrscheinlich hat dieser Mistkerl ganz genau gewusst, wie weit er gehen kann, um nichts ernsthaft kaputt zu machen.«

       Dieser Mistkerl …

      Mila verspürte ein ganz leichtes Schwindelgefühl bei dem, was Eric ihr eben gesagt hatte. »Wieso kennst du dich mit klassischer Musik aus?«, fragte sie, um etwas Zeit zu gewinnen und ihre Gedanken zu sortieren.

      Er grinste. »Du meinst, Schmalspurganoven ist so was verboten?«

      Mila war peinlich berührt, weil er ihre Meinung über ihn so schonungslos ausgesprochen hatte, und das ärgerte sie. Immerhin war er derjenige gewesen, der sie neulich bestohlen hatte. Warum fühlte sie sich dann so zerknirscht dabei, wie er sie ansah?

      Er zuckte mit den Schultern. »Ist natürlich nur eine weitere Masche von mir, um naive, kleine Touristinnen auszunehmen.« Er wirkte heute irgendwie anders als gestern. Entspannter. Und er hatte seine Jeans gewechselt.

      Mila schluckte.

      Der Geigenspieler spielte.

      »Wegen neulich.« Eric zögerte. »Es tut mir leid, dass ich dich beklaut habe.«

      Sie sah in seine hellbraunen Augen und absurderweise verwandelte sich ihre Zerknirschtheit nun auch noch in Schuldgefühl. »Ich …«

      Er reckte den Zeigefinger vor ihrer Nase in die Höhe. »Nein! Bitte lass mich ausreden.« Mit der flachen Hand strich er sich die Haare aus der Stirn. Erneut dachte Mila daran, wie sein Knochen geknackt hatte. Dann erinnerte sie sich, was sie geschrieben hatte.

      Dass der Bruch wie durch Zauberhand heilte …

      Eine sehr, sehr alte Gabe, flüsterte Maréchals Stimme in ihrem Hinterkopf. Und: Ich könnte zum Beispiel dafür sorgen, dass du jetzt eben keine Jeans anhast …

      War es möglich, dass sie dafür gesorgt hatte, dass Erics Hand wieder gesund war?

      Das war doch völliger Schwachsinn!

      Sie sah, wie er sich vorbeugte. »Offenbar scheinst du einen positiven Einfluss auf mich zu haben. Jedenfalls hab ich eine echte Gelegenheit ziehen lassen.«

      Milas Magen verknotete sich. »Was meinst du damit?«

      »Kurz nachdem ihr weg wart, du und dieser unheimliche Irre … Ich habe bei den Schließfächern dahinten gestanden und hatte schon ein neues Opfer ausgesucht. Eine Frau mit roten Haaren, sie …«

      »Wie bitte?« Mila schrie fast.

      Eric schien erstaunt über ihre Verblüffung. »Eine Frau«, wiederholte er. »Lange feuerrote Haare, Louis-Vuitton-Tasche. Und ich habe sie laufen lassen. Blöd, oder? Sie hätte sich so was von gelohnt.«

      Eine Frau mit roten Haaren. Die Schließfächer.

       Eine sehr, sehr alte Gabe, die wir besitzen, solange wir uns hier in Paris aufhalten.

      Milas Knie begannen zu zittern.

      »Was hast du? Du bist plötzlich ganz blass.« Eric machte Anstalten, nach ihrem Ellenbogen zu greifen, aber sie hätte seine Berührung nur schwer ertragen.

      Sie riss ihren Arm weg. »Fass mich nicht an!«

      Beschwichtigend hob er beide Hände und als das nichts nützte, wich er auch noch ein Stück rückwärts.