Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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halben Kilometer entfernt, aber ums Verrecken hätte Mila nicht zugegeben, dass ihr mulmig war. Es reichte schon, dass Eric sie auf das Dach gezogen hatte wie eine Puppe.

      Kurz taxierte sie den Abstand zur Tonne, dann vergewisserte sie sich, dass ihre Verfolger nicht zurückkamen, und sprang. Für ihre Begriffe war der Aufprall ziemlich hart und vermutlich auch nicht besonders elegant. Sie musste sich an der Bretterwand abstützen und dabei schürfte sie sich die Handfläche ein wenig auf. Aber als sie von der Mülltonne auf die Erde hüpfte, nickte Eric anerkennend. »Talentiert.«

      Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Dann wies sie zur Dachkante. »Du hast mich da einfach so hochgezogen!«

      Er grinste.

      Wie schon neulich fiel ihr auf, wie sehnig seine Unterarme aussahen. »Wieso bist du so stark?«

      »Wenn du öfter mal nur an einem oder zwei Fingern über einem Abgrund hängst, dann kommt das von ganz allein.«

      Mila sah ihn plötzlich mit ganz neuen Augen. »Du bist Parkourläufer!« Einer ihrer Klassenkameraden in Berlin gehörte zu einer Gruppe Jugendlicher, die regelmäßig auf einer verlassenen Baustelle das Parkourlaufen trainierte. Mila war ein paarmal mit den Jungs dort gewesen und hatte ihnen zugesehen, wie sie über Hindernisse rannten und sprangen, aber noch nie hatte sie jemanden getroffen, der sich so wendig und scheinbar mühelos bewegen konnte wie Eric.

      Sein Grinsen erlosch. »Parkourläufer sind Weicheier.« Es schien, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber stattdessen fragte er: »Was jetzt?«

      Darüber hatte Mila noch gar nicht nachgedacht. Sie starrte auf die Schürfwunde an ihrer Hand. Verunsichert grub sie die Fingernägel aller fünf Finger in ihre Stirn.

      Eric schien zu ahnen, was in ihr vorging. »Wenn du nicht weißt, wo du hinsollst, gehen wir erst mal zu mir. Da bist du vor diesen Typen sicher.«

      Mila ließ die Hand sinken. Das Adrenalin ebbte langsam ab und hinterließ ein Gefühl von Taubheit in ihrem gesamten Körper.

      Eric kannst du vertrauen

      Auf einmal fiel ihr ein, was sie vorhin, als Maréchal das zu ihr gesagt hatte, so irritiert hatte. Sie hatte dem alten Buchhändler gegenüber kein Wort von Eric gesagt.

      Plötzlich war sie nur noch müde.

      Wann war der Moment gewesen, in dem sich ihr Leben in einen Spionageroman verwandelt hatte?

      »Wo wohnst du?«, fragte sie, weil ihr nicht einfiel, was sie sonst tun sollte.

      Er verzog angewidert das Gesicht. »Wohnen tue ich in einem vierzig Quadratmeter großen Schuhkarton in einem Vorort von Paris. Aber zu Hause bin ich in einem alten Abbruchhaus gar nicht so weit von hier.«

      Der Hinterhof war klein. Die Häuser standen so eng, dass es zwischen ihnen dämmerig wirkte. Milas Blick schweifte über mit Graffiti besprühte Wände, zugenagelte Fenster, Türen, die ursprünglich einmal grün gewesen sein mussten. Unrat und zertrümmerte Möbel lagen auf einem großen Haufen in einer Ecke. Es roch vergammelt. Eine Ratte hockte auf einer aufgeplatzten Mülltüte und starrte Mila an, als wollte sie sagen: Was hat dich denn hierher verschlagen? Dann sprang sie zu Boden und huschte an der Mauer des gegenüberliegenden Hauses davon.

      Mila hatte eine Gänsehaut.

      Eric, der das Tier auch gesehen hatte, grinste sie an. »Die tun nichts, solange sie genügend zu fressen finden.«

      Mila verzog das Gesicht. »Wie beruhigend.« Sie fühlte sich wie auf Droge, unruhig. Zappelig. Und gleichzeitig so müde, als sei sie seit Tagen wach.

      Kein Wunder, dachte sie. In den letzten Stunden war mehr passiert, als gewöhnlich in ein ganzes Leben passte. Und offenbar auch sehr viel mehr, als ihrer bisherigen Meinung nach zwischen Himmel und Erde gepasst hätte.

      Nachdem sie den Gare de l’Est verlassen hatten, hatte Eric sie in der Rue Bellot in eine schmale Seitengasse und durch einen noch schmaleren Durchlass in diesen Hinterhof geführt. Mila fühlte sich wie in eine andere Welt geraten. Plötzlich war das Paris, das sie bisher kennengelernt hatte, das Paris der Kirchen und Sehenswürdigkeiten und der gut gelaunten Touristen und der geschäftigen Franzosen, weit weg.

      »Hey!« Eric sah ihr ins Gesicht. »Versuch, dich zu entspannen. Wir haben diese Typen abgehängt, okay? Die tun dir nichts mehr.«

      Mila hielt dem Blick seiner hellbraunen Augen einige Sekunden lang stand. Dann nickte sie. »Okay.« Sie holte tief Luft. »Okay«, wiederholte sie.

      Eric wies zu einem der Fenster im ersten Stock hinauf. Es war das einzige, das nicht mit Brettern vernagelt war. »Da geht es rein.« Er trat zurück, um einen kurzen Anlauf zu nehmen. Dann lief er los – auf die Mauer zu, die im rechten Winkel zu dem Fenster stand. Ganz ähnlich wie vorhin auf dem Bahnsteig lief er zwei Schritte die Mauer hoch, wirbelte in der Luft herum und stand im nächsten Moment in der Fensteröffnung.

      »Und du bist doch Parkourläufer!«, sagte Mila.

      Von seinem erhöhten Posten blickte Eric auf sie herab. »Ich sag doch: Parkourläufer sind Weicheier. Warte hier.« Er verschwand und gleich darauf wurde im Erdgeschoss die Haustür geöffnet. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim!«

      Sie trat an ihm vorbei und blieb staunend stehen.

      Obwohl das Haus von außen aussah wie eine Ruine, war es noch vollständig eingerichtet. Sie stand in einer Art herrschaftlicher Empfangshalle mit Fliesen in blau-weißem Schachbrettmuster, einer geschwungenen Freitreppe, die ins Obergeschoss führte, einem großen Kamin samt Ölgemälde einer traurig aussehenden Frau in weißem Kleid darüber und einer Sitzgruppe aus antiken Möbeln, deren Polster von einer grünen Moosschicht überzogen war. Ein alter Flügel befand sich rechts vom Kamin, sein Deckel war aufgeklappt und Noten standen auf ihm, als sei derjenige, der hier früher gespielt hatte, nur für ein paar Minuten aus dem Raum gegangen. Die Tasten des Flügels waren nicht mehr vollständig. Es fehlten ungefähr die Hälfte und auch die Saiten im Inneren des Instruments schienen teilweise gerissen zu sein.

      Der Anblick wirkte trostlos und Mila überlief eine Gänsehaut.

      »Beeindruckend, nicht wahr?« Eric war von hinten dicht an sie herangetreten und hatte ihr die Worte ins Ohr geflüstert.

      Mila zuckte zusammen. »Gott!«, entschlüpfte es ihr.

      »Tut mir leid.« Plötzlich wirkte er verlegen. Oder nein: Gehemmt traf es eher. »Komm«, sagte er. »Oben ist es ein bisschen gemütlicher als hier.« Er wartete nicht darauf, ob sie ihm folgte, sondern lief die Freitreppe hinauf in den vierten Stock.

      Eilig rannte Mila hinter ihm her.

      Oben war die Atmosphäre nicht viel anders als unten. Der Fußboden war von einem verblichenen Läufer bedeckt, auf dem Staub und Mäusekot lagen. Auch hier hingen Gemälde an den Wänden, die meisten waren so nachgedunkelt, dass die Gesichter darauf fast wie die von Geistern wirkten, die einen aus einer unheimlichen Finsternis heraus anstarrten. Auf einem kleinen Tischchen stand eine Vase. Die Blumen darin waren vermutlich schon vor Jahren zu Staub zerfallen.

      »Warum steht dieses Haus leer?«, fragte Mila. »Ich dachte, in Paris ist Wohnraum knapp und teuer?«

      »Die letzte Besitzerin ist vor Jahren gestorben und seitdem streiten sich die Erben darum, was damit passieren soll.« Eric folgte einer Gangbiegung. »Mir soll’s recht sein.« Schwungvoll stieß er eine Tür auf, die in eine weiträumige und mit verstaubten, antiken Möbeln versehene Zimmerflucht führte. »Immer herein«, sagte er.

      Während sich Mila in der Suite umsah, machte sich Eric daran, einen Tee zu kochen. Mila betrachtete das riesige Bett, das den Raum dominierte und das mit seinen gedrechselten Pfosten und der zerschlissenen Tagesdecke aussah wie aus einem Märchen. In einer Ecke des Zimmers lag eine silberne Isomatte und darauf ein blauer Schlafsack, offenbar Erics Nachtlager.

      Mila ging durch eine Tür neben dem Bett und stand in einem Badezimmer aus den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Der Fußboden war aus hellem Marmor. Er wies zahllose Sprünge auf. Die Badewanne