Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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in ihrem Hinterkopf. Und sie selbst fügte hinzu: Ja. Tust du. Und es stimmte. In den Geschichten, die sie in den letzten Jahren über Nicholas geschrieben hatte, liebte sie ihn. In der Realität hingegen hatte sie eher Angst vor ihm.

      Sie senkte den Kopf, starrte auf die geborstenen Terrassenfliesen.

      »Er hängt da mit drin, oder?«, fragte Eric.

      Sie antwortete nicht.

      »Du glaubst das auch«, sagte Eric ihr auf den Kopf zu. »Du hast ihn absichtlich ausgelassen. Warum?«

      Seine Hartnäckigkeit und vor allem die Anklage, die sie in seiner Stimme zu hören glaubte, trieben einen Stachel aus Wut tief in Milas Brust. Ihr Kopf ruckte hoch. »Was weißt du schon?«, fauchte sie ihn an. »Du hast keine Ahnung! Du …« Ihr blieb die Luft weg und ihre Stimme kippte.

      Eric stand ganz ruhig da. In seinen Augen flackerte es schwach. »Nein«, sagte er. »Du hast recht. Ich habe keine Ahnung davon, was du gerade durchmachst. Aber ich vermute mal, dass du um dich schlägst, weil du verzweifelt bist, und das ist okay für mich, wenn es dir danach besser geht.« Er sagte das so schlicht und selbstverständlich, dass sie wusste, er meinte es tatsächlich so.

      Seine Worte nahmen ihrer Wut die Kraft. Betreten schloss sie die Augen. »Tut mir leid, ich wollte nicht … Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt machen soll.«

      Vielleicht sollte sie zusehen, dass sie diese Stadt verließ und zurück nach Hause fahren. Der Gedanke war kurz da und genauso schnell wieder verschwunden, weil Eric nun wieder ihre Hand nahm.

      »Hey«, sagte er in ihre Überlegungen hinein. »Du musst dich nicht entschuldigen.«

      Sie hielt seinem Blick stand, aber diesmal entzog sie ihm ihre Hand. »Danke«, sagte sie. Und hoffte, dass er wusste, wie dankbar sie wirklich war. Sie hatte keine Ahnung, warum, aber sie spürte, dass Flucht keine Lösung sein würde. Sie hatte erfahren, dass sie eine Gabe besaß, die alles andere als normal war. Und sie würde einen Teufel tun, davor einfach davonzulaufen.

      Was sie vermutlich sowieso nicht können würde.

      »Was jetzt?«, fragte Eric und hielt sie damit davon ab, länger über diese Gabe nachzudenken.

      »Keine Ahnung«, sagte sie. Sie merkte, dass sie am Ende ihrer Kräfte war, aber dann fiel ihr etwas ein. An eine Person hatte sie bisher kaum einen Gedanken verschwendet. »Odette. Sie war die Erste, die mir begegnet ist, als ich aus dem Zug gestiegen bin. Und sie hat mich gewarnt. Sie hat etwas gesagt wie: Diese Geschichte hier ist schon längst zu Ende erzählt.«

      Und nicht nur das, fügte Mila in Gedanken hinzu. Odette hatte ihr gegenüber auch Nicholas’ Namen erwähnt. Vielleicht würde die Obdachlose tatsächlich etwas Licht in das Dunkel all dieser Rätsel bringen können.

      Eric sah das ähnlich. »Gute Idee! Wenn du willst, helfe ich dir, sie zu finden«, sagte er.

      »Wenn du willst, helfe ich dir, sie zu finden.« Eine dunkle Stimme wiederholte seine Worte wie ein spöttisches Echo.

      Mila fuhr zusammen und drehte sich um.

      Aus den Schatten trat Nicholas. »Für einen Versager aus den Vororten bist du ganz schön fürsorglich«, sagte er zu Eric und lächelte.

      Mila konnte nicht glauben, dass er tatsächlich hier war. Woher wusste er, wo sie sich befand? Und was wollte er von ihr? Verfolgte er sie etwa? So viele Fragen und so wenig Antworten, und das machte sie ganz kribbelig. »Was soll das?«, fuhr sie ihn an. »Was hast du hier zu suchen? Lauerst uns auf und …«

      »Schscht!«, sagte er und hob einen Zeigefinger in die Höhe. »Ich bin deinetwegen hier. Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir haben, aber du musst mir jetzt zuhören.« Er trug seinen Mantel offen und Mila konnte die Jeans und das Hemd darunter sehen. Es war weiß.

      »Hast du keine Angst mehr, dass ich mich in dich schockverliebe?«, fragte sie, so herablassend sie konnte. »Immerhin warst du es, der mir geraten hat, dir aus dem Weg zu gehen. Ich hätte mich dran gehalten.«

      Er hielt einige Sekunden lang inne, als überlege er, ob er ihren Hohn verdient hatte. Und als er kurz die Augen schloss und es so aussah, als laute die Antwort für ihn Ja, da war da sofort wieder dieses andere Gefühl in Mila. Sympathie. Nein, mehr: Verbundenheit, genau wie sie es Isabelle gegenüber auf den Stufen vor Sacré-Cœur erwähnt hatte. Ein Band, das von ihrem Herzen direkt zu seinem zu führen schien, das sich im Moment allerdings mehr anfühlte wie Stacheldraht.

      »Du hast leider keine Chance, mir aus dem Weg zu gehen«, sagte er. Seine Stimme hatte plötzlich eine andere Klangfarbe angenommen. Fast als bedauere er das wirklich.

      »Ja, sieht ganz so aus!« Sie verbarrikadierte sich hinter ihrer Wut. »Weil du mich stalkst!«

      Eric machte Anstalten, sich einzumischen, aber sie hielt ihn mit einem warnenden Blick davon ab.

      Nicholas trat an die Brüstung der Terrasse und ließ seinen Blick über die umliegenden Dächer schweifen. Täuschte sie sich oder wirkte er besorgt? Mila ertappte sich dabei, dass sie versuchte, einen Blick unter seinen Mantel zu erhaschen.

      Ob er eine Waffe bei sich trug wie der Typ auf dem Friedhof?

      Er beendete seine Überprüfung der Umgebung und wandte sich zu ihr um. »Mila, du hast nicht die geringste Ahnung, was hier vor sich geht«, sagte er.

      »Stimmt.« Sie spürte, dass ihr Blick ärgerlich flackerte. »Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht. Aber ich vermute mal, du bist hier, um mir in deiner überaus großmütigen und herzensguten Art alles zu erklären.«

      Der Mond spiegelte sich in seiner Iris, ließ seine Augen aussehen wie winzige Sternenhimmel.

      »Ich bin hier, weil ich dich vor den … weil ich dich beschützen will. Jemand namens Villain Caruel macht Jagd auf dich.« Er wischte sich eine Haarsträhne aus den Augen. Dabei fiel ihr wieder ein, wie seine Nase unter ihrem Ellenbogen geknackt hatte. Bis auf einen frischen Cut an seiner Unterlippe wirkte sein Gesicht jedoch völlig unverletzt.

      Sie strich über die Schürfwunde an ihrem eigenen Daumen. »So?«, sagte sie. »Na, dann bin ich ja froh, dass du da bist. Ich komme ohne dich nämlich nicht im Geringsten klar. Und weil ich so klein und dumm bin, hilfst du mir mal am besten auf die Sprünge und gibst mir ein paar Antworten. Fangen wir doch mit besagtem Villain Caruel an. Wer ist er?«

      Bevor Nicholas darauf antworten konnte, schob Eric sich ein Stück vor. »Du wirst ihm doch wohl nicht trauen? Was, wenn das hier eine Falle ist? Er kann genauso gut zu denjenigen gehören, die dich verfolgen.«

      Sie verzichtete darauf, ihn daran zu erinnern, dass sie ja auch ihm traute. Und das, obwohl er noch vorgestern versucht hatte, sie zu beklauen. »Ich traue ihm nicht.«

      Aber war das wirklich so?

      Nicholas’ Blick streifte sie und sie musste sich zusammennehmen. Er war dem Nicholas aus ihren Geschichten so ähnlich. Auch dort versuchte er ständig, sie zu beschützen, und auch dort fiel es ihm irgendwie schwer zu akzeptieren, dass sie nicht wie eine Prinzessin behandelt werden wollte. Einmal hatte sie ihm das an den Kopf geschleudert und er hatte sie lange schweigend angesehen, bevor er schlicht gesagt hatte: »Nur wie eine Prinzessin? Ich würde dich wie eine Königin behandeln, wenn du mich lassen würdest.«

      »Doch, du traust mir«, sagte er nun leise. Sein Blick fühlte sich ganz genauso schwer und lebendig an wie der in ihren Geschichten. »Und irgendwo in deinem Inneren weißt du das auch.«

      »Echt jetzt?«, stöhnte Eric und Mila wusste nicht, ob er mit ihr oder mit Nicholas sprach.

      Sie ließ Nicholas nicht aus den Augen. Er erwiderte ihren Blick. Schließlich riss er sich los, um den Kopf zu wenden und zu lauschen. »Wir sollten besser von hier verschwinden. Es wird bald –«

      Unten auf der Straße fuhr ein Polizeiwagen mit eingeschalteter Sirene vorbei.

      »Nein!«, entfuhr es Nicholas. Und nur einen Sekundenbruchteil später hechtete er vorwärts. Prallte gegen Mila. Gemeinsam gingen sie