Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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Junge auf dem Bild war Nicholas. Die Frau seine Mutter.

      Nicholas ließ es in den Schoß sinken, lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen.

      Er sah friedlich aus. Zum ersten Mal, seit sie ihn auf dem Bahnhof getroffen hatte, hatte sich über seine Gesichtszüge ein halbwegs entspannter Ausdruck gelegt und wieder wurde Mila klar, wie gut er aussah. Seine schmalen, ebenmäßigen Züge, die gerade Nase und die hohen Wangenknochen hatte sie mehr als einmal beschrieben. Mit einem engen Gefühl in der Kehle stand sie nun in der Kellertür, blickte auf ihn hinunter und dachte daran, wie oft er sie in ihren Geschichten in den Arm genommen hatte. Wie oft er sie sanft auf die Stirn – und auch auf den Mund – geküsst hatte. Und wie intensiv sie stets dabei gefühlt hatte. Mit den Fingerspitzen fasste sie an ihre Lippen, weil sie seine Berührung auch jetzt dort zu spüren glaubte.

      Sie kannte ihn so gut.

      Sie räusperte sich leise und da zuckte er zusammen, schob hastig etwas in sein Notizbuch.

      »Ist das hohe Gericht zu einem Urteil gekommen?«

      Und schon schob sich wieder die Maske über sein Gesicht. Wieso nur abermals der sarkastische Unterton? Ihr Nicholas war lustig, manchmal auch spöttisch, aber nie so bitter und sarkastisch. Auch wenn er dem Jungen aus ihren Geschichten äußerlich so unglaublich stark glich: Das hier war nicht ihr Nicholas. Natürlich nicht!

      »Für den Moment macht Eric mit«, sagte sie, um seine Frage zu beantworten. Sie raffte ihre Haare im Nacken zu einem losen Pferdeschwanz. »Ich hab ihn gebeten, dass ich kurz allein mit dir sprechen kann.«

      Eric war natürlich dagegen gewesen, aber sie hatte das Gefühl gehabt, dass sie mehr von Nicholas erfahren würde, wenn er nicht dabei war. Abgesehen davon brauchte sie keinen der beiden als Beschützer.

      Jedenfalls nicht, solange keine Pistole auf sie gerichtet war.

      Nicholas blickte zur Tür, als erwarte er, Eric hinter ihr auftauchen zu sehen. Der allerdings hielt sich an sein Versprechen, nebenan zu bleiben, damit Mila in Ruhe mit Nicholas sprechen konnte.

      Weil sie plötzlich nicht mehr wusste, was sie sagen sollte, wies sie auf das Notizbuch. Als Einstieg zu einem Gespräch war das ebenso gut wie alles andere. »Du schreibst?« Es fühlte sich komisch an, ihn so weit zu überragen, und so ging sie neben ihm in die Hocke.

      »Nein«, sagte er.

      Es bedeutete: Ich will nicht mit dir darüber reden.

      Unangenehme, tiefe Stille machte sich zwischen ihnen breit. Etwas wollte Mila dazu bringen, Nicholas zu berühren, wieder diesen Ausdruck von Wärme zum Vorschein zu bringen, mit dem er sie jetzt schon ein paarmal angesehen hatte, wenn er glaubte, sie bemerke es nicht. Sie kämpfte dagegen an.

      »Ich wusste bis heute nichts davon, dass ich …« Sie zögerte. »… so schreiben kann.«

      Er wandte ihr den Kopf zu. Zwischen seinen Brauen stand eine tiefe Falte. Mila konnte sich in seinen dunkelblauen Augen spiegeln. »Du hast behauptet, dass du all das hier geschrieben hast. Dass wir hier sind. Dass sie uns in diesem Keller nicht finden werden.« Sie dachte daran, wie er auf der Dachterrasse ganz plötzlich gewusst zu haben schien, was passieren würde. Wie er sie genau im richtigen Moment zur Seite gestoßen hatte. Ein Frösteln überlief sie. »Dir war klar, dass dieser Schuss fallen würde, nicht wahr? Darum hast du mich davor bewahren können.«

      Er deutete ein Nicken an, ganz schwach nur, sodass sie nicht sicher war, ob sie es wirklich gesehen hatte. Seine Schweigsamkeit machte sie ganz kribbelig. Am liebsten hätte sie ihn gepackt und geschüttelt.

      Mit den Fingerspitzen tippte sie sich gegen die Schläfe. »Ich möchte all das verstehen. Hilf mir dabei!«

      »Dass wir hier in diesem Keller sind, habe ich nicht geschrieben«, sagte er. Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich kurz. Sie sah, wie er an seinen rechten Unterarm fasste, dorthin, wo sie das blaue Leuchten gesehen hatte. Ohne recht zu wissen, was sie tat, schob sie seinen Ärmel ein Stück hoch. Nicholas zog die Luft durch die Zähne bei ihrer Berührung, aber er hielt still, sodass sie die Schrift erkennen konnte, die auf seiner Haut flammte.

       Der Tod ging über …

      Mehr konnte sie nicht erkennen, denn er hielt sie davon ab, den Ärmel höherzustreifen.

      »Was ist das?«, murmelte sie.

      Seine Lippen teilten sich. Er wollte ihr eine Antwort geben, das sah sie ihm an. Aber dann überlegte er es sich doch anders.

      »Nichts, was dir Sorgen machen müsste«, sagte er, und weil das ein Spruch war, wie er ihn in ihren Geschichten so häufig sagte, entfuhr ihr ein wütender Ausruf.

      »In echt bist du genauso ein Macho wie …« Hastig brach sie ab. Die Vorstellung, ihm zu sagen, dass sie auch über ihn geschrieben hatte, war gerade zu viel für sie.

      Sein Blick war ganz ruhig und geradeaus in ihr Gesicht gerichtet. »In echt«, wiederholte er.

      Weil sie sich vorkam, als könne er sie gerade bis in die tiefsten Winkel ihrer Seele durchschauen, deutete sie auf die kleine Platzwunde, die er an der Lippe hatte. »Was ist passiert?«

      Er grinste. »Ich bin auf dem Friedhof mit einer Furie zusammengestoßen, die mir den Ellenbogen ins Gesicht gerammt hat.«

      Mila spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Ehrlich gesagt fühlte es sich mehr an, als hätte ich deine Nase getroffen.«

      »Hast du. Du hast sie gebrochen.«

      »Nie im Leben! Deine Nase würde anders aussehen, wenn sie gebrochen wäre.«

      »Das liegt daran, dass sie jetzt nicht mehr gebrochen ist.«

      »Du … du hast dir den Bruch wegerzählt, stimmt es?«

      Diesmal lächelte er.

      Sie wusste, dass es so war. Sie tippte sich gegen die Stelle ihrer Lippe, an der er den Cut hatte. »Warum hast du das nicht auch wegerzählt?«

      »Ich hatte meine Gründe.« Er nahm sein Notizbuch und wollte es in die Tasche stecken, doch dabei fiel etwas heraus. Als er hastig danach griff, entdeckte Mila, dass es ein Foto war. Ein Kind war darauf abgebildet, es war eindeutig Nicholas im Alter von vielleicht vier oder fünf Jahren. Und eine dunkelhaarige Frau mit den gleichen ebenmäßigen Gesichtszügen, die er auch hatte.

      »Das ist deine Mutter, oder?«, fragte Mila.

      Er knirschte mit den Zähnen.

      Sie fing seinen Blick ein, wartete.

      »Sie war es«, sagte er irgendwann. »Sie ist tot.«

      »Das tut mir sehr leid.« Ihre Stimme zitterte jetzt.

      »Sie starb schon vor Jahren.« Er schloss die Augen. »Sie hat das Schreiben immer mit dem Einfangen von Mondlicht verglichen«, flüsterte er.

      Mila wurde das Herz schwer, als sie den Schmerz in seiner Stimme hörte. Vielleicht, dachte sie, gab es Wunden, die weder die Zeit noch die Fabelmacht heilen konnten.

      Nach einer Weile erhob sich Nicholas. Er steckte sein Notizbuch in die Manteltasche, trat in die Mitte des Raumes und hielt inne, als könne er hören, ob ihre Verfolger noch draußen herumschlichen.

      Eric, der es in dem anderen Raum offenbar nicht mehr ausgehalten hatte, gesellte sich zu ihnen. Forschend schaute er Mila an, stellte aber keine Fragen.

      »Sie sind weg!«, sagte Nicholas.

      Eric schaute grimmig. »Woher willst du das wissen? Kannst du etwa auch durch Wände gucken, oder was?«

      »Ich brauche nicht durch Wände zu gucken.« Der Blick, den Nicholas Eric zuwarf, ähnelte dem eines Vaters, der mit einem begriffsstutzigen Kind sprach.

      Er weiß auch das, dachte Mila dumpf, weil er es geschrieben hat.

      »Was denn?«, regte sich Eric über Nicholas’ Blick auf. »Ich bin eben kein … Fabelmächtiger!