Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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Eric deutete auf das Nachbargebäude. Zwischen ihm und dem, auf dessen Dach sie sich befanden, klaffte eine Lücke, die mindestens vier Meter breit war. Drüben gab es eine ganz ähnliche Dachterrasse wie die, auf der sie standen, aber sie lag ein Stockwerk unter ihrer.

      »Da kommen wir unmöglich rüber«, sagte Mila.

      »So?« Erics Augen funkelten. »Dann pass mal auf!« Er nahm drei Schritte Anlauf und rannte los, bevor Mila auch nur Luft holen konnte. Sein linker Fuß traf die Terrassenumrandung und von dort aus katapultierte er sich in die Höhe. Flog über den Abgrund hinweg. Auf der gegenüberliegenden Terrasse landete er, fing seinen Schwung mit einer Rolle ab und stand gleich darauf wieder auf den Füßen.

      Mila war der Atem weggeblieben. »Du spinnst!«, rief sie zu ihm hinüber.

      Die Tauben landeten auf dem Dach hinter Mila. Irgendwo unten in den Straßen ertönte ein Martinshorn.

      Eric warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Du kannst aus Weiß Schwarz machen. Ich kann fliegen.«

      »Du bist nicht geflogen. Du bist gesprungen.« Mila schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du bist kein Parkourläufer.«

      »Bin ich auch nicht. Ich bin Roofer.« Während er das sagte, wandte Eric sich um. Neben ihm befand sich eine hüfthohe Mauer, die sein Stockwerk und das darüberliegende des Nachbarhauses in schrägem Winkel miteinander verband. Er sprang hinauf und lief darauf entlang bis zu einer Reihe kleiner Kamine. Oben angekommen, trat er bis dicht an die Kante. Unter ihm war jetzt nichts als Luft. Zwanzig Meter oder mehr bis hinunter auf den harten Asphalt.

      Mila stockte schon wieder der Atem, besonders, als Eric erneut Anlauf nahm und zum zweiten Mal über die Lücke zwischen den beiden Häuser setzte. Diesmal verschwand er aus ihrem Blickfeld und gleich darauf betrat er die Terrasse auf demselben Weg wieder, auf dem sie beide eben hier angekommen waren.

      »Die meisten Parkourläufer sind Feiglinge«, behauptete er so gelassen, als wäre all das überhaupt nichts Besonderes gewesen. »Sie haben Angst vor der Höhe.« Seine Wangen glühten und er wirkte unfassbar lebendig und energiegeladen. Bevor Mila es sich versah, sprang er auf die kaum handbreite Terrassenbrüstung, breitete die Arme aus und drehte sich einmal um seine eigene Achse. Dabei lachte er voller Freude und Begeisterung. Die Tatsache, dass es nur Millimeter vor seinen Füßen mehrere Stockwerke in die Tiefe ging, schien ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken.

      »Komm da runter!« Milas Stimme war flach vor Sorge.

      »Keine Angst, ich mache das jeden Tag.« Er hielt an und sah mit schief gelegtem Kopf auf sie herunter. Dann beugte er sich nach vorn und steckte die Hand aus. »Los!«

      Sie sollte zu ihm da hochklettern? Auf keinen Fall!

      »Du spinnst doch!«, keuchte sie. Vorsichtig beugte sie sich über die Brüstung. Wenn sie hier abstürzte, blieb von ihr nur ein großer Fleck auf dem Pflaster übrig.

      Eric jedoch gab nicht so schnell auf. Er hatte die Hand noch immer ausgestreckt. In einer ungeduldig wirkenden Geste streckte er die Finger, schloss sie kurz zur Faust und öffnete sie wieder. »Mach schon! Es passiert dir nichts! Versprochen!«

      Du kannst ihm trauen!, hörte Mila Maréchal sagen.

      Und ohne weiter darüber nachzugrübeln, griff sie nach Erics Hand. Vorsichtig stellte sie einen Fuß erst auf einen kleinen Absatz vor der Balustrade.

      Und im nächsten Moment stand sie in schwindelnder Höhe auf dem schmalen Sims.

      »Breite die Arme aus!«, sagte Eric.

      »Was wird das hier? Titanic für Arme?«, fragte sie.

      Er lächelte. »Nun mach schon!«

      Und Mila tat, was er sagte.

      Es fühlte sich berauschend an. Dass sie jeden Moment abstürzen könnte, war gleichzeitig beängstigend und auf schreckliche Weise verlockend. Wie vorhin nach der Flucht vor den Verfolgern fühlte sie sich lebendig und verletzlich zugleich. Sie schwankte bedrohlich.

      Mit einer eleganten Bewegung sprang Eric von der Balustrade, trat hinter sie und legte ihr die Hände auf beide Hüften. »Keine Angst, ich halte dich.«

      Und das tat er tatsächlich.

      Sein Griff gab ihr das Gefühl, sicher zu sein. Langsam hob sie die Arme, bis sie parallel zum Boden ausgestreckt waren. An ihren Fußspitzen vorbei schielte sie in die Tiefe und musste schlucken. Das Straßenpflaster lag meterweit unter ihr. Menschen gingen dort unten vorbei und hatten nicht die geringste Ahnung davon, dass sie hier oben stand. Mila sah einen Mann im Anzug und eine Frau mit einem Kinderwagen. Ein Fahrradkurier kurvte über den Bürgersteig und umrundete die beiden mit einem waghalsigen Manöver. Die Frau schimpfte ihm nach.

      All das war so unendlich weit weg, dass Mila auf einmal ganz ruhig wurde.

      Egal, was auch immer dort unten geschah, hier oben war es nicht wichtig.

      »Wenn man hier oben steht und auf diese Stadt hinunterblickt«, sagte Eric leise, »dann erscheint einem alles möglich, findest du nicht? In meinen Augen ist Paris voller Magie. Kitschig, ich weiß, aber es ist die Antwort auf deine Frage.«

      Sie ließ die Arme sinken und schaute zu ihm hinunter.

      »Die Antwort auf deine Frage, warum ich dir glaube.« Er ließ ihre Hüften los, reichte ihr die Hand und half ihr, zurück auf die Terrasse zu springen.

      »Danke«, sagte sie leise.

      Er grinste. »Gern. Aber jetzt zurück zum Wesentlichen: Diese Kerle, die dich verfolgen. Was machen wir mit ihnen?« Er lehnte sich an die Brüstung und verschränkte die Arme. »Ich glaube nicht, dass die einfach so aufgeben. Sie haben dich schon zweimal gefunden. Wir sollten dafür sorgen, dass das nicht noch mal passiert.«

      Wieder dieses Wir. Warum nur machte er sich mit solcher Selbstverständlichkeit ihre Probleme zu eigen?

      »Hast du ihn gegoogelt?«, fragte er. »Villain Caruel, meine ich.«

      Nein, hatte sie nicht. Dazu war bisher keine Zeit gewesen, auch wenn das eine naheliegende Idee war.

      Mila tastete nach ihrem Handy in der Hosentasche. Villain Caruel ergab über viertausend Treffer, aber keines der Ergebnisse der ersten Seiten schien auf den genauen Namen zu passen. Sie probierte es mit einer exakten Suche – und fand nichts. Nur eine Frage erschien: ob sie vielleicht Villain Carusel gemeint habe.

      »Das gibt es doch gar nicht«, murmelte sie. »Jeder ist heute irgendwo im Netz zu finden.«

      »Er mit Sicherheit auch«, sagte Eric düster. »Vielleicht ist das einfach nicht sein richtiger Name.«

      Mila richtete den Blick über die Dächer der Stadt und überlegte. Und da sie nun schon mal dabei war, gab sie jetzt auch das Wort Fabelmacht in das Suchfeld ein.

      Alles, was sie erhielt, waren ein paar Treffer über einen Fußballtrainer, der Fabel mit Nachnamen hieß. Sie kombinierte Fabelmacht und blau und stieß auf eine Märchensammlung, in der das Märchen »Das blaue Licht« vorkam.

      »Oh«, machte Eric. »Davon habe ich früher mal ein Hörspiel gehabt. Immer wenn der Geist darin erschienen ist, habe ich mir vor Angst in die Hose gemacht.«

      Mila hätte ihn gern gefragt, ob er sich jetzt gerade ähnlich stark gruselte. Ihr ging es so. Sie ließ das Handy sinken.

      »Was?«, fragte Eric.

      Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Es ist nur alles gerade ein bisschen viel.«

      »Kann ich mir vorstellen.« Er blickte sie aufmerksam von der Seite an. »Eines hast du übrigens ausgelassen bei allem, was du mir erzählt hast.«

      »Wovon sprichst du?«

      Er lächelte. »Von meinem brutalen Freund. Wie hast du ihn genannt? Nicholas?«

      Mila verspürte Beklemmung. Sämtliche Begegnungen mit Nicholas zogen an ihrem geistigen Auge vorbei. Die am Bahnhof. Das Zusammentreffen