Kathrin Lange

Fabelmacht Bundle


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schrie auf, aber es war ein Laut der Überraschung, nicht des Schmerzes.

      Der harte Aufprall und Nicholas’ Gewicht, das auf ihr landete, trieben Mila die Luft aus den Lungen. Nicholas jedoch kümmerte das nicht. Er zerrte sie wieder auf die Beine. »Los! Weg von hier!« Er packte sie unsanft, stieß sie herum und in die Deckung eines Mauervorsprungs. Ein zweiter Knall ertönte, wieder sirrte es und diesmal kapierte Mila, dass es Querschläger waren, die sie hörte.

      Jemand schoss auf sie!

      »Deckung!« Nicholas packte Mila im Genick und drückte sie nach unten. Sie wollte protestieren, aber ein dritter Schuss bewies ihr, dass es klüger wäre, die Klappe zu halten. Ihr Herz schien nicht ganz bei dem mitzukommen, was gerade geschah. Aus irgendeinem Grund schlug es nicht heftig und schnell, sondern ganz und gar langsam. Wie betäubt. Und genauso fühlte sie sich auch. Als würde das alles hier jemand anderem passieren, einer Figur aus einer ihrer Geschichten, und nicht ihr.

      »Hoch!«, kommandierte Nicholas. »Schnell!« Er wies den Tritt entlang, über den Mila und Eric auf die Dachterrasse gelangt waren. »Beeilt euch!«

      Halb geduckt rannten sie den schmalen Steg entlang bis zur Dachluke.

      »Weiter!«, befahl Nicholas, als Mila schon hineinsteigen wollte. »Nicht ins Haus. Da warten sie schon. Auf der anderen Seite vom Dach gibt es eine alte Feuerleiter.«

      »Woher weißt du das alles?« Eric klang gehetzt, ungläubig und extrem misstrauisch.

      Nicholas beachtete ihn nicht. Er hatte jetzt Milas Oberarm gepackt und dirigierte sie zu der Feuertreppe. Als sie unter ihren Füßen die Metallstufen spürte, entwand sie Nicholas ihren Arm. »Du tust mir weh! Außerdem kann ich allein laufen.«

      Er nickte knapp, warf einen Blick zurück. »Los! Schneller! Bis ganz nach unten und dann nach rechts.«

      Die Treppe war alt und nicht besonders vertrauenerweckend. Sie ächzte in ihren Verankerungen, sodass Mila übel wurde.

      Eric jedoch schien das nicht das Geringste auszumachen. Er griff nach dem Handlauf, schwang sich darüber und stand im nächsten Moment eine Etage unter Mila. Prüfend rüttelte er an den Verstrebungen. »Keine Angst, das hält«, versicherte er.

      Mila spreizte die Beine ein wenig, um die Schwankungen der Treppe auszugleichen. Als sie hinter Eric her nach unten eilte, spürte sie die Erleichterung fast körperlich.

      »Wer sind diese Typen?«, rief er im Laufen.

      Nicholas, der den Abschluss machte, verzichtete zum ersten Mal, seit er sich auf der Terrasse zu erkennen gegeben hatte, darauf, ihn zu ignorieren. »Villain Caruels Leute«, antwortete er knapp.

      Ja, dachte Mila. Das wusste sie schon.

      Eric nahm drei Stufen auf einmal. »Was wollen sie von Mila?«

      »Sie töten.«

      Auch das wusste Mila schon, aber der Schock darüber, wie ruhig Nicholas es aussprach, war fast noch größer als auf dem Bahnhof, wo sie es zum ersten Mal gehört hatte. Unwillkürlich fasste sie sich ins Gesicht, an ihre Wange, die seit dem ersten Schuss fies brannte. Aber da war kein Blut. Der Schuss hatte sie nicht gestreift, doch er musste ihren Kopf nur um wenige Millimeter verfehlt haben. Vor Schreck über diese Erkenntnis kam sie ins Stolpern. Nicholas und Eric wollten beide zugreifen, aber bevor einer von ihnen sie festhalten musste, hatte sie sich schon selbst wieder gefangen.

      »Weiter!«, befahl Nicholas. Er warf einen Blick durch die metallenen Stufen nach oben, um zu sehen, ob sie verfolgt wurden. »Serge kann gar nicht genug davon bekommen, dir quer durch die Stadt hinterherzujagen.«

      Mittlerweile hatten sie den Fuß der Feuertreppe erreicht.

      Mila spürte ein unangenehmes Stechen in der Seite. Sie atmete unregelmäßig. Wie Nicholas gesagt hatte, wandten sie sich nach rechts und rannten in eine schmale Gasse. Es war extrem dunkel hier, das Mondlicht zu schwach, um den mit Unrat übersäten Boden zu erreichen. Es roch unangenehm nach Pisse und Schimmel.

      Bei einer Kellertür blieb Nicholas stehen und mit jagendem Atem tat Mila es ihm gleich. »Du kennst ihn?«, keuchte sie. »Diesen Typen, der mich verfolgt?«

      »Ja«, sagte er.

      Eric schwieg. Sein Atem ging völlig normal.

      Hinter ihnen wurden Schritte laut und jetzt endlich hatte Milas Herz begriffen, was vor sich ging. Es schlug nun so schnell, dass sie kaum noch Luft bekam. Jemand hatte gerade auf sie geschossen!

      Nicholas schaute sichernd die Gasse entlang. In einer fließenden, kraftvollen Bewegung ließ er den Fuß gegen die Tür krachen. Sie flog auf. »Da rein. Schnell!« Er wollte Eric hindurchstoßen, aber der wehrte sich.

      »Das ist eine Mausefalle, Mann!«, stieß er hervor. »Diese Keller haben nur einen einzigen Ausgang.«

      Nicholas sah ihn spöttisch an, dann zuckte er mit den Schultern. »Von mir aus. Lass dich eben schnappen.« Er schob Mila durch die Tür. Sie wehrte sich nicht, denn sie war mittlerweile viel zu panisch dazu. Aber als Nicholas Anstalten machte, die Tür hinter sich und ihr zuzumachen, protestierte sie.

      »Eric kann nicht …«

      »Schon gut! Ich lasse dich nicht mit ihm allein.« Gerade noch rechtzeitig schlüpfte Eric durch den Spalt, dann schlug Nicholas die Tür auch schon ins Schloss. Er fasste in die Innentasche seines Mantels und förderte einen schmalen silbernen Kugelschreiber zutage. Hastig kritzelte er damit etwas auf die verputzte Wand neben der Tür. Es dauerte nur zwei Sekunden, dann flammten seine Buchstaben blau auf.

      Eric japste.

      Mila sah zu, wie die Schrift sich blau färbte. Nur einen Lidschlag später war das zertretene Türschloss wieder intakt und verriegelt. Nicholas setzte den Stift ab, steckte ihn zurück in seine Manteltasche.

      Mit geweiteten Augen sah Mila ihn an. Sie hatte längst geahnt, dass er genau wie sie die Fabelmacht besaß, aber nun das erste Mal zuzusehen, wie sie funktionierte, fühlte sich an, als habe sie einen Stromstoß erhalten. Ein Kribbeln wanderte von ihrem Genick aus nach unten und über ihren gesamten Körper. Für Nicholas hingegen schien es völlig normal zu sein. Er wirkte so gelassen, als wäre das für ihn alltäglich. Rettete er auch jeden Tag Mädchen vor irgendwelchen Auftragskillern?

      Eric schien mit dem Verfolgtwerden sehr viel weniger Probleme zu haben als mit dem wiederhergestellten Schloss. Er tastete in dem Schlüsselloch herum, betrachtete es aus mehreren Blickwinkeln. »Krass!«, kommentierte er. Dann richtete er sich auf. »Warum bist du so sicher, dass sie uns hier nicht finden?«

      Nicholas zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht ganz sicher. Ich hab einfach etwas ausprobiert.«

      »Na, toll«, sagte Eric und ballte die Fäuste. Mehrere Sekunden lang starrten er und Nicholas sich in die Augen und schließlich war Nicholas der Erste, der den Blickkontakt abbrach. Offenbar allerdings nicht freiwillig. Er biss plötzlich die Zähne so fest zusammen, dass die Muskeln an seinem Kiefer hervortraten. Ein leises Ächzen entfuhr ihm und seine Augen wurden schmal, so als habe ihn ein plötzlicher Schmerz überfallen. Das Ganze dauerte allerdings nur ein paar Sekunden, dann hatte er sich wieder im Griff.

      »Okay, jetzt weiß ich es doch sicher«, sagte er und ein sichtliches Aufatmen ging durch seinen Körper. »Wir müssen für ein paar Stunden hier unten bleiben, dann werden sie die Suche nach uns wohl aufgeben.«

      »Woher. Weißt. Du. Das. Alles?« Eric betonte jedes einzelne Wort wie einen Pistolenschuss.

      Jetzt endlich schenkte Nicholas ihm ein Lächeln. Es sah allerdings nur im ersten Moment freundlich aus, dann wurde es zu einer Grimasse, die irgendwie trotzig aussah. »Ich weiß es«, sagte er ruhig, »weil ich es so geschrieben habe.« Seine linke Hand umklammerte seinen Unterarm dabei.

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