zuckte mit den Schultern. »Zwingt dich ja keiner, bei uns zu bleiben!«
Eric schnaufte. »Schon klar. Als ob ich dich mit Mila allein lassen würde.«
Nicholas lachte trocken. »Wartet, bis ich gecheckt habe, ob sie wirklich weg sind.« Er entriegelte die Tür, öffnete sie und trat nach draußen.
Eric hielt Mila zurück. »Und? Bist du jetzt schlauer, was ihn betrifft?« Er hatte seine Stimme gesenkt.
Sie sah ihn resigniert an. Wenn sie das wüsste! Genau genommen waren ihre Fragen eher noch zahlreicher geworden.
»Du musst zur Polizei gehen, Mila! Sag ihnen, dass diese Typen hinter dir her sind und dass sie auf dich geschossen haben.« Mit dem Kopf deutete er in Nicholas’ Richtung. »Und dass er sie kennt.«
»Und dann?«, gab Mila zurück.
»Sie werden die Kugeln auf der Terrasse finden, was beweist, dass du die Wahrheit sagst. Sie können dich beschützen und diesen Serge und diesen Michel einbuchten.«
Ja, dachte Mila. Und die beiden Typen vom Friedhof gleich mit.
Sie überlegte, ob sie Eric davon erzählen sollte, dass ihre Verfolger mindestens zu viert waren. Was, wenn es noch mehr von ihnen gab? Auf einmal kam sie sich vor wie ein Tier auf der Flucht. So musste sich ein Fuchs fühlen, wenn die Meute hinter ihm her war und er nicht mehr wusste, wo er hinsollte …
Bevor sie Erics Vorschlag auch nur in Ansätzen durchdacht hatte, streckte Nicholas den Kopf zur Tür herein. »Gegen Caruels Leute kann die Polizei nichts ausrichten«, sagte er so gelassen, als hätte Eric das Wort an ihn gerichtet.
Eric verdrehte die Augen. »Und wieso nicht?«
Nicholas strich sich über die aufgeplatzte Lippe. »Weil Caruel auch fabelmächtig ist. Du glaubst doch nicht, dass es oben auf der Terrasse auch nur eine Spur von den Schüssen gibt.«
»Er hat die Kugeln wegerzählt?« Mila schwirrte schon wieder der Schädel. Noch immer hatte sie das Gefühl, gleich würde jemand kommen und diesen ganzen Fabelmachtkram als einen magischen Zaubertrick enthüllen.
Nicholas setzte zu einem Nicken an. »Ich würde drauf wetten. Und die Löcher im Putz, wo die Kugeln abgeprallt sind, gleich mit. Es gibt da oben keinen einzigen Hinweis mehr auf die Schüsse.«
Eric schüttelte sich. »Sag ich ja. Mehr als strange!«
Nicholas war jetzt nur noch auf Mila fokussiert. »So leid es mir tut, aber ich fürchte, wenn dich einer vor Caruels Leuten beschützen kann, dann bin ich es. – Wartet!« Erneut verschwand er.
Mila machte einen Schritt in Richtung Tür.
»Mila!« Eric berührte sie am Arm. »Du willst doch nicht ernsthaft mit ihm …«
»Was soll ich sonst tun?«, fiel sie ihm ins Wort. »Er besitzt diese Gabe, die ich auch habe. Er könnte mir Erklärungen liefern. Vielleicht brauchen wir Odette gar nicht.«
Maréchal fiel ihr ein, der allein auf dem Friedhof zurückgeblieben war. Er würde auch Antworten haben.
Eric zog sie von der Tür weg, lehnte sich hinaus und warf einen Blick nach rechts und links. »Mila, wenn Nicholas deine bevorzugte Option ist, dann ist er eine verdammt schlechte. Da, wo ich aufgewachsen bin, kennen wir Leute wie ihn. Da ist etwas in seinen Augen.«
»Ach ja?«, sagte sie hitzig.
»Ja. So sieht jemand aus, der Menschen auf dem Gewissen hat und es verdammt noch mal auch weiß.«
Sie lachte auf und trat rückwärts einen Schritt auf die Gasse hinaus. »Das meinst du doch jetzt nicht im Ernst, oder?«
Eric hatte schon den Mund zu einer Erwiderung geöffnet, aber plötzlich war Nicholas wieder da. »Ich hatte doch gesagt, ihr sollt drinnen auf mich warten!«
Mila zuckte zusammen. Sie hatte ihn nicht kommen hören, er bewegte sich fast völlig lautlos.
Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Dann wandte er sich Eric zu. »Menschen auf dem Gewissen?«, wiederholte er. »Im Ernst, Mann?« Seine Stimme war schon wieder spöttisch, aber in seinen Augen flackerte ein Ausdruck, der Mila zeigte, dass Erics Worte ihn aus irgendeinem Grund tief getroffen hatten.
»Mila, warte!«
Nicholas’ Stimme hallte durch die Gasse bei dem alten Abbruchhaus, aber Mila hörte nicht auf ihn. Sie schritt so weit aus, dass sie beinahe rannte. Der erschrockene und zutiefst schuldbewusste Blick in Nicholas’ Augen eben hatte ihr klargemacht, dass Eric recht hatte.
Nicholas … Menschen auf dem Gewissen …
Der Ausdruck der Schuld auf seinem Gesicht war eindeutig gewesen: Er hatte offenbar tatsächlich Menschen auf dem Gewissen.
Und damit war er eben nicht ihre beste Option. Sondern Odette. Oder auch Maréchal, wenn sie ihn fand.
Mila hatte sich kurzerhand an den Jungs vorbeigedrängt und dann war sie losgelaufen. Es war ihr egal gewesen, ob einer von ihnen ihr hinterherkam. Sie hatte jetzt genug davon, dass andere Entscheidungen für sie trafen. Sie bog um eine Hausecke und rannte in die nächste Gasse, die nur unwesentlich breiter war. Jemand hatte hier ein paar Möbel auf die Straße gestellt, vielleicht damit die Müllabfuhr sie abholen konnte. Die Gasse allerdings war viel zu schmal für ein Müllauto und das alte Sofa und die Tische und Stühle schienen schon seit Monaten vor sich hin zu rotten.
Der Verkehrslärm, der zu ihr hinüberdrang, schien abgenommen zu haben. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, aber in Anbetracht der Stunden, die sie im Keller zugebracht hatten, war es gut möglich, dass es auf Mitternacht zuging.
»Was hast du vor?« Nicholas hatte sie eingeholt und passte seine Geschwindigkeit der ihren an. Er hielt mühelos mit ihr mit, obwohl sie sich alle Mühe gab, ihn abzuhängen. Seine Mantelschöße flatterten beim Gehen, genau so wie sie es immer geschrieben hatte.
Sie ächzte.
Eric war ebenfalls irgendwo hinter ihr.
Zornig schüttelte sie den Kopf. »Ich suche Odette!«
»Ha! Meine Rede!« Eric beschleunigte, sodass er nun auf der anderen Seite neben ihr herlief.
Mila sah ihn wütend an. Mittlerweile geriet sie außer Atem. Sie wollte ihre Schritte trotzdem noch einmal beschleunigen. Nicholas jedoch packte sie am Arm und zwang sie, stehen zu bleiben. »Mila! Du darfst nicht zu Odette!« Er sah blass aus, extrem beunruhigt, genau so wie vorhin auf der Dachterrasse, kurz bevor der Schuss gefallen war.
»Lass sie!«, schnauzte Eric ihn an.
Im selben Moment entriss Mila Nicholas ihren Arm.
»Du darfst auf keinen Fall zu Odette!« Nicholas’ Stimme war fest, aber in seinen Augen flackerte es unheilvoll.
Mila versuchte, schlau aus ihm zu werden. Wenn er sie daran hindern wollte, zu der Obdachlosen zu gehen, konnte das eigentlich nur bedeuten, dass Odette etwas wusste, das sie seiner Meinung nach nicht erfahren sollte. Andererseits: Er wirkte wirklich besorgt. Was sie allerdings nicht erkennen konnte, war, ob ihretwegen oder weil er Caruels Plan in Gefahr sah.
»Und warum nicht?«, fauchte sie.
»Du weißt nicht genug über …«
»Genau!«, zischte sie ihn an. »Ich weiß nicht genug. Und warum? Weil du dir jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen lässt! Rede mit mir, verdammt! Erklär mir, was eigentlich los ist, dann kann ich vielleicht Entscheidungen treffen, die in deinen Augen auch klug sind!«
Er wirkte überrascht von ihrem Ausbruch. Sie sah, wie er eine Hüfte vorschob, als müsse er sich gegen einen scharfen Wind stemmen.
Direkt vor ihnen befand sich eine Querstraße, die die verschiedensten arabischen und nordafrikanischen Geschäfte beherbergte. Mila sah dunkelhäutige Männer in Flipflops und eine Menge Frauen mit Kopftüchern auf den Bürgersteigen. Aus einem Laden dudelte arabische Musik. Sie wurde überlagert von