Horst Bosetzky

Mörder kennen keine Grenzen


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stand sie vor ihrer Haustür. Sie öffnete ihre Tasche und suchte nach dem Schlüssel. Über ihr in den niedrigen Wolken dröhnte eine Düsenmaschine, gegenüber flackerte noch ein Fernsehapparat, im dritten Stockwerk feierten sie Geburtstag und sangen bei offenem Fenster Verse vom Sanitätsgefreiten Neumann.

      Miezi kannte die Leute und beschloss, mitzufeiern. Es war ihr letzter Abend hier in Berlin, ihr letzter Abend als Nutte, und das musste begossen werden.

      In dem Moment fiel ihr ein, dass sie um zweiundzwanzig Uhr dreißig mit diesem Dr. Kolczyk am Görlitzer Bahnhof, an der Hochbahn, verabredet war. Er wollte was über Ziegenhals hören, richtig. Na, über den konnte sie stundenlang reden. Verrat hin, Verrat her, die Piepen kamen ihr jetzt sehr gelegen. Außerdem – wer hatte denn wen verraten? Schließlich hatte Ziegenhals sie sitzen lassen. „Ick jehe“, murmelte sie. „Klar jehe ick hin!“ Aber vorher wollte sie noch schnell nach oben, die Toilette aufsuchen und sich ein bisschen waschen. Sicherheitshalber. Der wäre kein schlechter Schlussstrich gewesen. Vielleicht war er auch ein neuer Anfang, wenn sie ihn richtig anfasste.

      Sie hatte die massive Tür hinter sich verschlossen und tastete nach dem Lichtschalter, der sich etwas weiter hinten befand. Das rote Glimmlämpchen, das ihn markierte, war der einzige Orientierungspunkt, den sie besaß. Doch sie hatte diesen Flur schon einige tausend Mal durchquert. Gleich hinter dem Lichtschalter führte die Treppe nach oben. Es roch nach nassem Holz, feuchtem Mörtel und Kohlrüben. Die Tür zum Hof stand offen und eine eklige Kälte fuhr herein. Miezi blieb einen Augenblick stehen, um zu niesen.

      In dieser Sekunde flammte irgendwo im Hinterhaus eine Lampe auf, und durch ein schmales Fenster über der Tür fiel ein wenig Licht in den hohen Flur. Miezi, die gerade die Hand zum Schalter führte, prallte zurück. Auf einem schmalen Treppenpodest, einen halben Meter über ihr, kauerte ein Mann. Sie erkannte es an der Hose, sie roch es irgendwie. Doch ehe sie noch den Mund aufgerissen hatte, um zu schreien, war er wie eine riesige Fledermaus auf sie herabgestürzt. Miezi wurde zu Boden gerissen, eine raue Hand verschloss ihren Mund. Ihr war, als würde ein Panzer über sie hinwegrollen. Mein Gott, das muss doch ein Irrtum sein! Sie fühlte noch, wie ihr Rock zerfetzt wurde.

      5. Kapitel

      Betr.: Bernd Ziegenhals.

      Anlage zum psychiatrischen Gutachten. Abschrift des Tonbandes 3/2.

      Locker assoziierende Selbstdarstellung des Probanden. Vom Autor überarbeitet.

      Immer wenn ich mich zu Ihnen setze, um Ihnen das zu erzählen, was mich bewegt, habe ich das Bild eines riesigen Staudamms vor mir. Ich will so viel sagen, so viel erklären, so viel offenbaren, aber meine schnelle Ermüdung und mein Unvermögen, Gedanken und Gefühle präzise in Worte zu fassen, lassen vom Aufgestauten nur wenig abfließen. Dazu kommt, dass mir eine schöne Formulierung mitunter mehr wert ist als eine Aussage, die mich zugleich entlasten und innerlich befreien könnte.

      Ein paar Bücher hat man mir wohlwollenderweise gelassen, und ich habe heute Morgen gerade eine Zeile von Francois Villon entdeckt, die mir als eine hübsche Einleitung erscheint: Nur wer im Wohlstand lebt, hat’s gut auf dieser Welt!

      Damit hat er mir aus der Seele gesprochen. Aber nun zur Sache. Kolczyk hatte keinen Tag mit seiner Überweisung gezögert, und kaum hatte ich mir ein Konto bei der Berliner Bank einrichten lassen, da zierte auch schon die Zahl 6000,00 die Spalte für den Guthabensaldo. Ein Anblick, der mich berauschte. Das war Geld, damit konnte man ein neues Leben beginnen oder wenigstens das alte auf einer höheren Ebene fortsetzen.

      Nachdem ich mir einen Anzug, Schuhe und ein paar Hemden gekauft und zur Feier des neuen Lebensabschnitts einen Friseur aufgesucht hatte, war ich etwa eine Woche lang in Berlin umhergezogen, um nach einer Wohnung zu suchen. Schließlich hatte ich mir bei Muttchen Braatz in der Grunewaldstraße zwei Zimmer mit Küche und Bad gemietet.

      Die Grunewaldstraße führt in leichtem Bogen vom alten Steglitzer Rathaus zum Botanischen Garten hinauf und wird von zwei bis dreistöckigen, meist recht ansehnlichen Villen gesäumt. Wer hier wohnt, darf getrost die Nase etwas höher tragen.

      Ich schlief jeden Morgen bis neun, halb zehn. Dann polterte Mr. John A. Cloward aus Boston, der mit mir die zweite Etage bewohnte, die ausgetretene Treppe hinunter und wurde unten von Muttchen Braatz begrüßt.

      „Vorsicht, Herr Klowart, um Gottes willen: Vorsicht!“, kreischte die alte Dame. Sie konnte kein Englisch und sprach den Namen des ehrbaren Journalisten so aus, dass ich ihm automatisch die Reinigung unserer gemeinsamen Toilette übertrug.

      Nach dem Erwachen blieb ich stets ein paar Minuten auf dem Bettrand sitzen und blickte befriedigt aus dem Fenster. Keine abgeblätterten Fassaden mehr, keine rohen Ziegel, keine schmutzigen Fensterscheiben mehr, hinter denen aufgeschwemmte Gesichter auf Sensationen lauerten, dafür weiße Birkenstämme und anmutige Lärchen, Tannen wie aus einem Bilderbuch und dahinter rostrote Dächer, Wolken und Himmel und Meisen, die aufs Fensterbrett flogen. Mit anderen Worten – die perfekten Kulissen für ein glückliches Leben.

      Dann frühstückte ich – ein Frühstück wie aus einem Werbespot für die Produkte deutscher Lande: ein Ei, ein Brötchen mit Honig, eine Schrippe mit fingerdickem Schinken, zwei Tassen Kaffee, ein Glas Orangensaft und zum Abschluss die erste Zigarette. Vor einer Woche wäre ich noch froh gewesen, wenn mir Opa Melzer einen zerfließenden Harzer Käse geschenkt oder Miezi mich zu einem Stück Knäckebrot eingeladen hätte.

      So genoss ich also mein neues Leben und war so zufrieden wie ein kleiner Geschäftsmann, der durch eigener Hände Arbeit zu einigem Wohlstand gekommen war.

      Es war an einem Donnerstag, als mich Muttchen Braatz unten in der ersten Etage abfing. Sie stand an der Treppe und hielt mir ihren schwarzen Krückstock wie einen Schrankenbalken vor die Nase. Zumindest von der Figur her war die alte Dame ein Original. An sich war sie klein und zierlich, hatte aber einen ungeheuren Bauch. Sie erinnerte mich an das Apfelmännchen, das Opa Melzer voriges Jahr zu Weihnachten für Miezi und mich gebastelt hatte: ein großer roter Apfel mit Streichholzärmchen und Streichholzbeinchen und einer bemalten Nuss als Kopf.

      „Schon ausgeschlafen, Herr Ziegenhals?“

      „Hm ... Was man so ausschlafen nennt ...“ Mich fröstelte; ich schloss den Knopf meines Hemdes und rieb mir die Hände.

      Sie schmunzelte. „Es friert im wärmsten Rock der Säufer und der ...“

      „So schlimm war’s nun auch wieder nicht!“ Ich fixierte sie mit brennenden Augen. „Elf schon?“

      „Ja, man soll’s nicht für möglich halten.“ Nun sah sie mich doch missbilligend an. „Sie führen ein Leben wie Gott in Frankreich.“

      „Ja, wenn man glücklicher Erbe ist.“ Ich hatte ihr erzählt, dass mein Onkel mir ein hübsches Sümmchen hinterlassen hatte. „Aber um Sie zu beruhigen: Nächste Woche fange ich an zu studieren ...“

      „Wird ja auch langsam Zeit ...“ Sie überlegte einen Augenblick. „Haben Sie übrigens schon meinen Piepsi gesehen?“

      „Nein, aber ...“ Ich strebte zur Tür, denn ich hatte keine Lust, in meinem verkaterten Zustand einen weiteren Spross der aufstrebenden Familie Braatz kennenzulernen, sechs schon besichtigte Enkelkinder mit mehr oder minder putzigen Kosenamen reichten mir.

      „Er ist erst zwei Monate alt und kann schon sprechen!“

      Sie