bläulicher Wellensittich. Auf den schrillen Pfiff der alten Dame hin kam er heruntergeflogen und ließ sich auf ihrem ausgestreckten Zeigefinger nieder. Sie küsste sein glänzendes Gefieder. „Ist er nicht ein goldiges Geschöpf?“
Nachdem das goldige Geschöpf mehrere weiße Kleckse im Zimmer verteilt hatte, wurde es in ein altertümliches Bauer gesperrt, das auf der polierten Platte des Nähtischs stand.
Das Zimmer von Muttchen Braatz war ein wahres Museum, nur roch es hier nicht so gut wie dort.
„Können Sie Mensch ärgere dich nicht spielen?“, fragte sie ein wenig verschämt, aber trotzdem in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
„Ja ...“ Diese Fähigkeit ließ sich nun wirklich nicht leugnen – trotz meines Brummschädels. Außerdem faszinierte mich ihr Gesicht, und ich hatte wirklich den Wunsch zu bleiben. Sie hätte den großen alten Damen des deutschen Theaters jederzeit Konkurrenz machen können. Sie war zugleich gütig und herzlos, milde und herrschsüchtig, freigebig und geizig, ehrlich und verschlagen, weise und verbohrt. Und das alles spiegelte sich in ihrem bleichen, runden Gesicht, in dem die herabhängenden Hamsterbäckchen ebenso auffielen wie die veilchenblauen Augen und die für ihr Alter, vierundsiebzig war sie, immer noch verblüffend roten Lippen.
„Dann setzen Sie sich man ...“ Sie nahm Brett, Würfelbecher und Steine vom Büfett.
„Gern ...“ Irgendwie war ich froh, dass sie mich zum Spielen einlud. Man sah es mir also nicht an, dass ich ein schmutziger Erpresser, ein Verbrecher war.
„Ich setze 50 Pfennig ein, für den Sieger ...“, erklärte sie kichernd.
Wir spielten anderthalb Stunden lang, und sie mogelte so geschickt, dass sie von vier Runden drei gewann. Hocherfreut ließ sie ihren Fünfziger ins Portemonnaie zurückgleiten.
„Bubenanlegen spielte ich noch lieber als Mensch ärgere dich nicht ... Oh, es klingelt!“ Sie drückte mich auf meinen Stuhl zurück und eilte stöhnend zur Tür. „Ah, Mathias, mein Junge!“
Wie jeden Mittag war ihr ältester Enkel erschienen, um ihr die Zeitung und einige Lebensmittel zu bringen. Sie fragte ihn kurz über die häuslichen Vorkommnisse aus, schenkte ihm dann eine Mark und entließ ihn schließlich mit einem feuchten Küsschen.
Wieder im Zimmer legte sie die Zeitung auf den Nähtisch und griff zu ihrem vergoldeten Lorgnon. „Da haben sie doch wieder einen Satelliten hoch geschossen ... Was Menschengeist so vermag! Und hier, nein, das ist ja schrecklich ...“
„Was ist denn passiert ...?“
„Frauenmord in Kreuzberg!“, las sie stockend. „Heute früh gegen sieben Uhr wurde im Keller des Hauses Naunynstraße 137 die 32jährige Prostituierte Marianne Ihlow tot aufgefunden. Ersten Ermittlungen zufolge ist sie erwürgt worden. Nach Auskunft der Kriminalpolizei muss das Verbrechen gestern Abend gegen zweiundzwanzig Uhr verübt worden sein. Ein Mieter, der in den Keller gegangen war, um sein Fahrrad ... Mein Gott, was haben Sie denn?“
Ich war aufgesprungen. Miezi, die Miezi von nebenan, meine Miezi! Das durfte doch nicht wahr sein! Ermordet, mein Gott!
Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, wurde mir noch viel flauer im Magen. Ich stand jetzt neben der alten Dame und überflog den Bericht. Natürlich, sie hatten den Mörder noch nicht gefunden. Im selben Augenblick wurde mir klar, dass ich mit Sicherheit auch zum Kreis der Tatverdächtigen gehören musste. Auch das noch! Sie würden mich unter die Lupe nehmen, mich ausquetschen, stundenlang. Sie haben also intime Beziehungen zu der Ermordeten unterhalten ... Nun geben Sie doch endlich zu, dass Sie sich Geld von Miezi geborgt hatten, viel Geld, und dass Sie das Mädchen ermordet haben, als sie es zurückverlangte.
„Kannten Sie denn die ... die ...“ Sie brachte das Wort nicht über die Lippen.
„Ja, ich hab mal im selben Haus mit ihr gewohnt.“ Es hatte keinen Zweck, das abzustreiten.
Sie musterte mich mit einem misstrauischen Blick, unterließ aber die spitzen Bemerkungen, die ihr bestimmt auf der Zunge lagen. Ich bemühte mich um ein Vertrauen erweckendes Lächeln. Offenbar überlegte sie fieberhaft, ob sie die Polizei benachrichtigen sollte oder nicht. Es war ein beklemmendes Gefühl, für einen Mörder gehalten zu werden, das heißt, so weit waren Muttchen Braatz’ Gedanken noch gar nicht gegangen, sonst wäre sie nicht so ruhig sitzen geblieben. Mit ein paar hastigen Worten, an die ich mich heute nicht mehr erinnern kann, verabschiedete ich mich von ihr und zog die Tür hinter mir zu.
Oben in meinem Zimmer stürzte ich erst einmal einen doppelten Whisky hinunter. Es dauerte Minuten, bis ich wieder aktionsfähig war.
Ich griff zum Telefon – glücklicherweise hatte mir mein Vorgänger seinen Anschluss überlassen – und wählte die Nummer 7 69 01.
„Freie Universität Berlin ...“
„Bitte Herrn Dr. Kolczyk ...“
Es vergingen zehn, fünfzehn Sekunden, dann hörte ich seine klare, vielleicht etwas zu helle Stimme.
„Ja, Kolczyk ...“
„Hier Ziegenhals. Guten Tag. Haben Sie schon die Nachtdepescbe gelesen?“
„Nein. Wieso?“
„Miezi Ihlow ist ermordet worden, das Mädchen, das in der Naunynstraße neben mir gewohnt hat ...“
Das muss ich Kolczyk zugestehen, der Bursche schaltete enorm schnell. Er stellte keine Rückfragen, sondern setzte seinen Denkapparat in Bewegung, und zwar so lange, dass ich unruhig nachfragte: „Hallo, sind Sie noch da ...?“
„Ja, natürlich! Das ist eine höchst fatale Sache. Haben Sie wenigstens ein Alibi?“
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. „Ja, sicher ...“ Aber so sicher war ich da nicht.
„Hm ...“ Viel schien ihm nicht einzufallen.
„Die Polizei wird todsicher bei mir auftauchen – im Haus weiß doch jeder, wie wir zueinander gestanden haben, ich meine, dass sie mir ab und zu mit Geld ausgeholfen hat. Wenn die von meinem Konto und meinem neuen Reichtum Wind kriegen, dann ist es Sense für mich. Wenn ich Glück habe, glauben sie mir, ich hätte Miezi das Geld geklaut – viel wahrscheinlicher aber werden sie sich einbilden, sie habe mir das Geld geborgt und es plötzlich zurückhaben wollen, als ich weggezogen bin! Sie hatte ja auch ’ne ganze Menge Ersparnisse. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu sagen, dass ich das Geld von Ihnen habe!“
Ich hörte, wie Kolczyk schluckte. „Das ist doch Wahnsinn!“
„Soll ich vielleicht sagen, ich hätte’s auf der Straße gefunden oder im Lotto gewonnen?“ Ich verstellte meine Stimme und schnarrte wie ein preußischer Leutnant. „Na bravo, Ziegenhals, dann zeigen Sie uns doch mal den Lottoschein!“
„Ja, ja, das sehe ich ein, dass das nicht geht ...“
„Na bitte! Wir müssen uns jetzt unbedingt darüber einig werden, was wir der Polizei erzählen. Ja, ganz richtig – wir. Wie wär’s mit Folgendem?“ Ich habe früher bei Ihnen studiert, und Sie halten mich für einen klugen Kopf, darum haben Sie mir kürzlich Geld geborgt. Sie können nicht zulassen, dass ein viel versprechender junger Mann wie ich als Obersekretär in der Städtischen Friedhofsverwaltung landet. Leisten können Sie sich’s ja, den Mäzen zu spielen. Außerdem bezahlen Sie mich dafür, dass ich Ihnen das Material für Ihr neues Buch zusammentrage, sagen wir ... äh ... Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen. Ich bin also quasi Ihr Privatsekretär ... Was meinen Sie, können wir’s so machen?“
„Es bleibt mir wohl nichts weiter übrig. Wenn Sie hängen, das heißt, lebenslänglich bekommen, dann werden Sie ja schon dafür sorgen, dass ich mitgehangen werde. Crescit animus, quoties cocpti magnitudinem attendit!“ Sein Lachen klang ziemlich verkrampft.
„Da kann ich Ihnen leider nicht folgen ...“
„Es wächst der Mut mit jedem Blicke auf des Unternehmens Größe – Seneca!“ Kolczyk