Mal auf einem Vulkan ab ...
Die entscheidende Frage war, ob ich Ziegenhals ausschalten konnte, ehe es zu spät war. So suchte ich fieberhaft nach einem Ausweg, während ich, scheinbar versonnen, zwei Gläser des tiefroten Weines leerte. Aber erst eine spöttische Bemerkung meiner Tochter brachte mich auf die rettende Idee.
„... pass auf, sie werden dir deine Werke aus den Händen reißen und in Tag- und Nachtarbeit übersetzen, und die Honorare werden sechsstellig sein. Vielleicht behalten sie dich auch da, und du wirst Ghostwriter im Weißen Haus!“
Da schaltete es bei mir.
Am nächsten Tag, als ich im Jet über Irland hinwegraste, nahm dann mein Plan konkretere Formen an. Ich hatte im Januar zufällig von einem Bekannten erfahren, dass Charles Emery, also der Mann, dessen geistiges Eigentum ich gestohlen hatte, wegen irgendeiner Affäre von der Universität geflogen sei und nun ein ziemlich armseliges Leben als Sozialarbeiter führe. Er würde sicherlich für jeden Dollar dankbar sein. Und darauf basierte mein Plan. Ich wollte Emery eine namhafte Summe bieten und ihn veranlassen, ein Statement etwa folgenden Inhalts abzugeben:
Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass die bei der Duke University Press, Durham, North Carolina, im Jahre 1950 unter meinem Namen erschienene Arbeit ‚Social Change in Pattons Landing‘ in Wahrheit von Herrn Rüdiger Kolczyk, Berlin/Germany, verfasst worden ist. Ich habe ihm damals 250 Dollar dafür gezahlt, dass er diese soziologische Arbeit für mich anfertigt und Dritten gegenüber Stillschweigen über ihre Herkunft bewahrt. Infolge einer vorübergehenden psychischen Störung nach dem Tode meiner Eltern, die im Januar 1950 vor meinen Augen einem Autounfall zum Opfer gefallen sind, war ich zu dieser Zeit nicht imstande, die für meine Karriere sehr bedeutsame Arbeit selber anzufertigen, sodass ich die Hilfe von Herrn Kolczyk in Anspruch nehmen musste. Er teilte mit mir dasselbe Zimmer und war jahrelang mit mir befreundet. Herr Kolczyk hat die obige Arbeit selbstständig verfasst und die dazu notwendigen Erhebungen ohne fremde Hilfe angestellt. Charles Emery.
Dann brauchte ich nur noch seine Unterschrift und das Siegel eines Notars – aber das ist in den USA, wo oft an Tabakläden das Schild Notary Public hängt, kein Problem.
Wenn ich dieses Dokument erst einmal in den Händen hielt, war ich gerettet: Dann hatte ich ja lediglich meine eigene Arbeit übersetzt und brauchte keinen Skandal mehr zu befürchten. Den kleinen Schönheitsfehler würde mir niemand ankreiden, zumal wenn man Zeit und Umstände der Tat in Rechnung stellte; die ganze Angelegenheit wurde einfach zu läppisch, um noch einen Stolperdraht zu bilden.
Wenn mir dieser Zug gelang, dann hatte ich Ziegenhals schachmatt gesetzt!
7. Kapitel
Betr.: Bernd Ziegenhals.
Anlage zum psychiatrischen Gutachten. Abschrift des Tonbandes 3/3.
Locker assoziierende Selbstdarstellung des Probanden. Vom Autor überarbeitet.
Ich führte das Leben eines Rentners, ohne aber mit meinen knapp sechsundzwanzig Jahren dessen Bedürfnis nach Ruhe und Frieden zu verspüren. Im Gegenteil, alles in mir schrie nach ‚action‘. Doch was sollte ich tun? Ich hatte nun wahrhaftig keine Lust, mich in irgendein Büro sperren zu lassen oder als Vertreter die Häuser abzuklappern. Und in eine Fabrik, wo es nach Schmieröl stinkt, wo man wie ein Affe vor seiner Maschine hockt, bekamen mich keine zehn Pferde mehr. Manchmal spielte ich mit dem Gedanken, einen Laden aufzumachen. Aber womit sollte ich handeln? Vielleicht mit Heringen, Pappschachteln oder Hosenknöpfen? Ich hatte von keiner Branche und keiner Ware genügend Ahnung, und für einen zweiten Mann reichte mein Startkapital nicht aus. Außerdem bekam ich jeden Monat meine 1000 Mark, ohne auch nur einen Finger krumm zu machen.
So stromerte ich Tag für Tag in Berlin herum, hockte stundenlang in Spielsalons, Ausstellungshallen, Restaurants und Kinos herum und las dann, wenn ich nach Hause kam, meterweise Taschenbücher.
Doch das Nichtstun wurde langweilig, und die Ziellosigkeit meines Daseins machte mich krank. Ich litt zunehmend unter Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Schwindelgefühlen, und meine Angst und Spannungszustände verstärkten sich beinahe von Tag zu Tag. Ich bildete mir steif und fest ein, dass Kolczyk zu einem vernichtenden Schlag gegen mich ausholen würde.
Muttchen Braatz hörte mich jede Nacht, wenn ich ruhelos in meinem Schlafzimmer umherwanderte, und am Morgen ermahnte sie mich dann immer:
„Sie sollten sich bald eine Arbeit suchen, Herr Ziegenhals. Dieses faule Leben tut nicht gut.“
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Es war an einem Dienstagabend, und ich kam gerade vom Ku’damm, wo ich in der Nähe der Gedächtniskirche ein Rumpsteak gegessen hatte. Während der Fahrt ging mir so allerhand im Kopf herum. Von Mr. Cloward, der Politologie und Soziologie studierte, hatte ich gehört, dass Kolczyk am Sonnabend aus New York zurückgekommen war, und diese Nachricht versetzte mich in größte Verwirrung. Aus Kriminalromanen, Illustrierten und wissenschaftlichen Reports wusste ich, dass es kein großes Kunststück ist, drüben in Amerika einen professionellen Killer aufzutreiben. Mit dem Geld, das Kolczyk besaß, hätte er sich eine ganze Armee leisten können. Und irgendwie war ich sicher, glaubte ich instinktiv zu spüren, dass er diesen Weg gehen würde, um mich loszuwerden. Ich hielt ihn für einen eiskalten Karrieremacher und zweifelte keinen Augenblick daran, dass er meinen Tod beschlossen hatte. Je höher er stieg, desto gefährlicher wurde ich für ihn. So sah ich mich in dutzenden von Albträumen sterben, sah scharenweise Gangster heranschleichen, die mich erschossen, erwürgten, vergifteten, ertränkten, zerschmetterten und zerquetschten. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann musste ich völlig durchdrehen. Meine Fantasie war Kolczyks bester Verbündeter.
Ich bremste jäh. Um ein Haar wäre ich einem feuerroten VW in die Seite gerast. Wieder einmal hatte ich die Vorfahrt nicht beachtet. Ich riss mich zusammen und fuhr im Schleichtempo über den Breitenbachplatz.
Aber nicht nur Kolczyk beunruhigte mich; auch Rannow hatte ich zu fürchten. Er hatte beim Verhör durchblicken lassen, dass ich sein Tatverdächtiger Nummer eins war. Offenbar fehlte ihm nur noch ein handfestes Motiv, um mich festnehmen zu lassen. Mein Alibi war ziemlich wacklig. Der Ober und die Bardamen im Iglu konnten sich nicht mehr so recht an mich erinnern. Zum Glück behauptete niemand, mich zur Tatzeit in der Naunynstraße oder in der Heißen Ecke gesehen zu haben. Aber das könnte sich unter Umständen bald ändern – es gab schließlich genügend Leute, die noch ein Hühnchen mit mir zu rupfen hatten.
Da ich in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung keinen Parkplatz mehr fand, musste ich den Mercedes in der ziemlich stillen Schmitt-Ott-Straße abstellen. Aber es war ein trockener, nicht zu kalter Abend, sodass mich die hundert Meter Fußmarsch nicht weiter störten.
Ich hatte gerade meinen Wagen abgeschlossen und mich zur Grunewaldstraße umgewandt, als hinter mir eine Gartentür quietschte. Ich fuhr herum ... Aus einer Toreinfahrt stürzte ein untersetzter, dunkelhäutiger Mann auf mich zu, ein Sizilianer vielleicht oder ein Jordanier; in der rechten Hand hielt er einen länglichen Gegenstand, offenbar einen Totschläger ... Kolczyks Killer!
Es dauerte einige Sekunden, aber ich konnte mich noch rechtzeitig aus meiner Erstarrung lösen. Wie von Sinnen rannte ich zur Grunewaldstraße hinüber, wo wenigstens ein schwacher Autoverkehr herrschte. Der Mann folgte mir und schrie etwas hinter mir her.
Am ganzen Körper fliegend, erreichte ich die Gartentür, stieß sie auf und hetzte auf das Haus zu. Dort baumelte eine lichtstarke Laterne. Eine bessere Zielscheibe