die etwas riefen. Das Schiff krachte gegen den Poller, Arme streckten sich der Frau und den Kindern entgegen und zogen sie an Land. Julia sank in die Arme eines Inselbewohners und hörte ihn sagen: »Da habt ihr aber mal Glück gehabt, ihr drei Hübschen«, dann wurde sie ohnmächtig. Der Fischer schleppte sie in den Hafen, wo Bode seine Lieben in Empfang nahm. Dass sie noch lebten, war ein Wunder. Julia war durch die Hungerzeit entkräftet und ausgemergelt. Sie hatte sich auf sonnig warmes Frühlingswetter am Meer gefreut, aber das ganze Brachland war in eine weiße Winterlandschaft verwandelt. Erst drei Wochen später wich die Kälte einer milderen Witterung, mit der wärmenden Sonne erblühte die wilde Flora der Nordseeinsel und die Mädchen pflückten Veilchen und Primeln, um die Zimmer damit zu schmücken.
Wenn er keinen Dienst hatte, dann kümmerte sich der Vater liebevoll um seine Töchter. Er zeigte ihnen die wilde Dünenlandschaft, sie sammelten Muscheln und erlebten am Wattenmeer Ebbe und Flut, die allerlei Seegetier anspülten. Barfuß liefen sie über die Backsteinwege zum menschenleeren Strand und verbrachten viele Stunden damit, Sandburgen zu bauen. Der Stallbursche Hinze versorgte die abgemagerten Mädchen mit Butter, Brot und köstlichem Kochkäse. So etwas Wundervolles hatten sie lange nicht gegessen. Hermann machte täglich Inspektionsritte über die Insel, bei denen jeweils ein Kind vor ihm im Sattel sitzen durfte. Sie galoppierten am Meer entlang, der Wind riss an ihren Haaren und das Meerwasser spritzte unter den Hufen des Pferdes. An der Spitze von Norderney stand ein Leuchtturm, dort suchte Bode mit dem Fernglas den Horizont ab, bevor er umkehrte und durch die Dünen zurücktrabte.
Die Mädchen besuchten die örtliche Volksschule und Elsa beklagte sich: »Der Lehrer schlägt die Buben mit dem Stock, einer hat so geweint, dass ich mit ihm weinen musste.«
Julia sah von ihrer Handarbeit auf: »Ich weiß, in eurer schönen Privatschule gab es keine Prügelstrafe.«
An einem anderen Tag kam Maria atemlos in den Wintergarten gestürzt und rief: »Der Lehrer, der Lehrer hat gesagt, die Bolschewisten haben den Zar, seine Frau und alle fünf Kinder erschossen!«
Die Anwesenden sahen sich entsetzt an, sie wussten, dass der englische König, der deutsche Kaiser und der russische Zar Cousins waren, und Bode deutete den Mord an der Zarenfamilie als eine Folge der Russischen Revolution. Alle hatten Angst vor einer Revolution. Die Abende verbrachte das Ehepaar in stillem Einvernehmen. Hermann fasste seine serbischen Aufzeichnungen zusammen und schilderte einzelne Episoden, die er mit den Dragonern erlebt hatte. Er erzählte Julia von seiner Verwundung und der außerkörperlichen Erfahrung, bei der er trotz seiner Bewusstlosigkeit vieles wahrnehmen konnte. Der Krieg und das Nahtoderlebnis hatten seine Einstellung nachhaltig verändert.
Zu dieser Zeit betonte Kaiser Wilhelm II., dass am Endsieg kein Zweifel bestehe, mit Gottes Hilfe würde die kaiserliche Flotte Großbritannien in die Knie zwingen. Die deutschen Schiffe sollten zu einem letzten Gefecht auslaufen und siegen oder glorreich und ehrenvoll untergehen. Im Hafen von Norderney lagen zahlreiche Kriegsschiffe, die zu Gefechten in See stachen, und man hörte täglich Kanonendonner. Eines Tages hieß es: »Englische Schiffe am Horizont!« Die Kinder rannten auf die Düne und sahen die feindliche Flotte in der Ferne vorüberziehen.
Im Rückblick sprachen die Schwestern von der wundervollen Zeit am Meer, die sie trotz des Krieges und der kargen Ernährung in guter Erinnerung behielten, bis der Vater im September 1918 als Kompanieführer des Reserve-Infanterie-Regiments 229 in die Champagne abkommandiert wurde und Julia mit den Mädchen nach Hannover zurückkehren musste.
In Hannover waren zwei von drei Bürgern an der spanischen Grippe erkrankt und viele Menschen starben. Die Kinder brachten den Virus aus der Schule mit nach Hause und innerhalb weniger Tage lag die ganze Familie mit hohem Fieber im Bett. Elsa konnte als erste wieder aufstehen und brachte der Mutter etwas Tee, da begann vor dem Haus die Knallerei. Die Marinesoldaten in Kiel hatten die Revolution ausgerufen und am 8. November 1918 wurde in der Georgstraße aus den oberen Fenstern der Gebäude lautstark geschossen. Keiner wagte sich aus der Haustüre, auch an die Fenster konnte man nicht mehr herantreten. Im Wirtshaus zur »Rauhen Mütze« verhandelte Oberbürgermeister Leinert mit den Arbeiterausschüssen, die mit ihren Messern in der Luft herumfuchtelten. Im Schutze der Dunkelheit brachte Stanzi einen Topf Suppe und überredete Julia dazu, in die Walderseestraße zu kommen, weil dort nicht geschossen wurde. Die Frauen packten die nötigen Gepäckstücke zusammen und saßen mit den Kindern im Hauseingang, bis die Schießerei unterbrochen wurde. Schnell hüpften sie in die nächste schützende Einfahrt und so ging es fort über die Bahnhofstraße, in der die Schießerei am schlimmsten war. Ein freundlicher Soldat half ihnen in die Straßenbahn, in der die Mädchen, eingewickelt in ihre Bettdecken, wie die verschreckten Hühner saßen. So ging es aus der Innenstadt hinaus zum Haus von Peter Bade, wo sie sich in der obersten Etage einrichten konnten. Es war eine langwierige Genesungszeit, die Kranken kamen nur schwer wieder zu Kräften, weil es viel zu wenig zu essen gab.
Unterdessen kämpfte Bode an der Aisne, wo man mit Rückzugskämpfen die Siegfriedstellung verteidigen wollte. Nach den Einbrüchen in die deutsche Front drängten die Alliierten weiter in Richtung der Hindenburglinie und die Wehrmacht konnten die alliierten Angriffe im Nordabschnitt nicht mehr zum Stehen bringen. Die Oberste Heeresleitung unter General Ludendorff forderte die sofortige Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen mit dem Hinweis, dass die Front jeden Tag zusammenbrechen könne. Der Verfall der deutschen Moral war offensichtlich und die Zahl der Toten überstieg eine Million. Es grenzte an ein Wunder, dass Bode die Rückzugsgefechte überlebte. Wenn die Monarchie unterging, dann wollte Kaiser Wilhelm II. möglichst viele junge Männer mit in den Tod nehmen. Am 9. November 1918 verkündete Reichskanzler Max von Baden eigenmächtig den doppelten Thronverzicht von Kaiser Wilhelm II., der Weg war somit frei für eine parlamentarische Demokratie. Hermann kämpfte vor der Antwerpen-Maas-Stellung, bis es am 11. November 1918 zum Waffenstillstand kam. Das Reserve-Infanterie-Regiment wurde in Aurich ordnungsgemäß aufgelöst. Leutnant Bode erhielt das Eiserne Kreuz I. Klasse und konnte nach Hause gehen. Zu Julia sagte er: »Wir Überlebenden müssen uns derer würdig erweisen, die für uns gestorben sind.«
Die zahlreichen Versehrten mussten behandelt werden, darum erweiterte Peter Bade seine orthopädische Klinik an der Sedanstraße und die Bodes zogen mit all ihren Möbeln aus der Zahnarztpraxis in die Dachwohnung an der Walderseestraße 15. Das spitzgiebelige Jugendstilhaus mit Fachwerk hatte drei Etagen und ein ausgebautes Dachgeschoss. Es stand in einem großen Grundstück mit hohen Kiefern, gleich neben der Eilenriede, einem Stadtwald, in dem man herrlich spazieren gehen konnte. Die Mädchen bekamen das Giebelzimmer, das sie »Dachjuhee« nannten. In der Vertäfelung hausten die Mäuse, die in der Nacht schlurfende Geräusche machten und den Schwestern Angst einjagten. Dankbar begrüßten sie ihre lang vermissten Spielsachen, die aus den Pappschachteln auftauchten, und vergnügten sich damit, das lange Treppengeländer bis ins Parterre hinunterzurutschen. Nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst konnte Bode die Zahnarztpraxis in der Georgstraße wieder eröffnen. Er stellte einen jungen Techniker ein und schon nach kurzer Zeit gab es eine Warteliste für seine Patienten. Einer der ersten war Fritz Beindorff.
Bis zum Ausbruch des Krieges hatte das Deutsche Reich etwa ein Drittel seiner Lebensmittel aus dem Ausland bezogen und war welt-weit der größte Importeur von Agrarprodukten. Das Handelsembargo der Briten wurde erst 1919 aufgehoben, zudem fehlten die Nahrungsimporte aus Russland. In den Städten starben Hunderttausende an Hunger und Unterernährung. Wer Verwandte auf dem Lande hatte, war im Vorteil, und Bode ließ sich seine Zahnbehandlungen gerne mit Naturalien bezahlen.
Die zweijährige Friedegard bekam eine Lungenentzündung, ihr kleiner Körper wurde von Hustenanfällen und Fieber geschüttelt und ihre verschwitzten Haare rochen nach Maggi. Julia wiegte die Kleine Tag und Nacht in ihren Armen und summte Kinderlieder, um sie zu beruhigen. Mit einer ovalen Glasreibe passierte sie einen geschälten Apfel, den die Kranke nicht bei sich behielt, auch die Ziegenmilch erbrach sie in hohem Bogen. Das zarte unterernährte Kind hatte keine Widerstandskräfte mehr und die verzweifelte Mutter wusste nicht, was sie tun sollte. Friedegard starb in den Armen von Peter Bade. Stanzi zog der Toten ein weißes Kleidchen an und legte sie in einen schlichten Kindersarg, bevor sie Julia und die Schwestern rief, damit sie Abschied nehmen konnten. Das tote Kind wirkte zutiefst anrührend und die zehnjährige Elsa flüsterte: »Unser Engelchen.« Die Schwestern begleiteten den Sarg bis zur Gartentür und