umkämpften Ausstellungswände, gegenseitig mit Farben und Linien abschlachten.«
Hermann runzelte die Stirn: »Aus der Sicht des Revolutionärs zählen nur Taten. Mir stellt sich die Frage, wo die Grenze verläuft, zwischen dem Aufruf zur Gewalt und der Tätlichkeit, die ich zur Durchsetzung von Kunst ablehne.«
Julia meinte: »Mich erschreckt die Verachtung gegenüber den Frauen«, und Mary setzte hinzu: »Die Futuristen behaupten, dass Frauen keine Kunst machen können. Pah! Ich weiß es besser. Nietzsche sagt im Zarathustra: ›Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden‹ und jetzt tanze ich für euch, den Gesang des Zarathustra.« Mary schlüpfte aus den Schuhen und legte die warme Wolljacke zur Seite, dann löschte sie das Licht und bewegte sich im Schein einer Kerze, die unwirkliche Schatten an die Wände warf. Leise hörte man sie sagen: »In dein Auge schaute ich jüngst. Oh Leben! Und ins Unergründliche schien ich mir da zu sinken.« Sie schwebte durch den Raum und sank in sich zusammen. Die Familie war tief berührt von dieser Darbietung und Hermann machte den Vorschlag, alle gemeinsamen Freunde einzuladen, damit sie Marys Kunst erleben konnten. Die zweiflügelige Verbindungstür zwischen Wohn- und Esszimmer wollte man als Bühne nutzen und eine Schweizer Freundin von Mary sollte den Tempeltanz auf dem großen Tamtam rhythmisch begleiten.
Am Tag der Aufführung kamen die Geschwister von Hermann und Mary und ein paar alte Freunde. Die Tänzerin erschien in einem schwarzen enganliegenden Kleid. Ihr Auftritt begann in völliger Dunkelheit und absoluter Stille. Wegen der Finsternis hatten die Besucher ihre Augen geschlossen, sie vernahmen das Pochen der Trommel, das sich langsam steigerte. Wie bei einem Sonnenaufgang wurde es nach und nach hell und die betörende Frauengestalt sichtbar. Die Künstlerin stand auf den Zehenspitzen, die Arme hoch aufgereckt, mit in den Nacken geworfenem Kopf still da. Man spürte die enorme Konzentration, den der Zehenstand erforderte, bis sie die Zuschauer in ihrer Gewalt wusste. Langsam sanken ihre ausdrucksstarken Hände herab und die Gestalt drehte sich im Rhythmus der Trommelschläge, schneller und schneller, wobei Mary ihren Körper wie einen Bogen zurückbeugte und wie ein Kreisel auf der Stelle rotierte. Ihre Hände warfen groteske Schatten an die Wände und das schwarze Haar flog um ihren Kopf. Die Drehungen wurden langsamer und langsamer, bis die ganze Figur in sich zusammensank, das Licht verlöschte und der Trommelschlag verstummte. Für Mary Wigman war der Tanz eine metaphysische Erfahrung und Ausdruck einer inneren Bewegung.
Emil Nolde »Der Tanz«
Die Bode-Mädchen waren voller Bewunderung für die Freundin des Vaters und wollten von ihr unterrichtet werden. Sie zeigte ihnen, wie man die Arme hält und die Hände fächert, der Kopf sollte leicht zurückgeneigt sein und der Rücken sich in einer bestimmten Spannung biegen. Julia spielte Chopin und die Grazien hüpften in wallenden Gewändern barfuß durch die Wohnung, übten das würdige Schreiten und kleinere Sprünge im Takt der Musik, dabei hatten sie große Freude an der rhythmischen Bewegung. Mary brachte das Ehepaar Emil und Ada Nolde mit, die sie in der Schweiz kennengelernt hatte. Nolde hatte eine Mappe dabei, in der er zahlreiche Aquarelle aufbewahrte. Bode war sehr angetan von der farbigen Durchlässigkeit der getuschten Bilder und kaufte das Blatt Der Tanz, auf dem vier Frauen in wildem Reigen ihre Arme ausbreiten und die Haare fliegen lassen. Bei dem Bild, das lange über dem Esstisch hing, dachten alle an die befreundete Tänzerin. Im Tausch gegen ein Landschaftsbild vom Genfer See reparierte Bode die Zähne der Noldes.
1912 stellte die Künstlergruppe »Der Blaue Reiter« in der Berliner Galerie »Der Sturm« aus. Bode las die Ausstellungsbesprechung und reiste mit Mary nach Berlin, um die Bilder von Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky und Robert Delaunay zu sehen. Der freie Umgang mit Farbe, Form und Inhalt war neu und aufregend. Die starke Farbigkeit der ungemischt aufgetragenen Pigmente wirkte belebend und die Dynamik der wiedergegebenen Sujets hatte etwas Mitreißendes. Hermann stand lange vor jedem einzelnen Bild. Er wollte herausfinden, was ihn an dieser Malerei erregte und ansprach. Die Farbgebung passte nicht zu dem wiedergegebenen Gegenstand, das war verwirrend und hatte etwas Revolutionäres. Er besprach sich mit Mary und sie kamen zu dem Schluss, dass es das Erzählerische war, das die Freiheit der nächsten Generation ausdrückte. Hier war eine treibende Kraft am Werk, die sich nichts vorschreiben ließ und frei assoziierend etwas in Gang brachte, was die Besonderheit des Daseins auszudrücken vermochte. Der ganze Raum roch nach frischer Ölfarbe, weil die Bilder erst kurz zuvor entstanden waren. Die Aufsicht in der Galerie hatte Else Lasker-Schüler, die Mary erkannte und ansprach. So erfuhren sie, dass sich die Künstlerpaare Kandinsky – Münter und Jawlensky – v. Werefkin angefreundet hatten und sich in Murnau mit den Malern Marc und Macke zusammentaten. Sie waren in Paris gewesen und kannten die Bilder von Picasso, Braque und Delaunay, die in ihrer Komposition und Farbgebung ungewöhnliche Wege gingen. Der Galerist Herwarth Walden trat hinzu und meinte: »Die Franzosen gliedern den Bildraum ihrer Gemälde formal neu, die abgebildeten Gegenstände werden gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt. Die Formen sind der Inhalt der Bilder, die Nachahmung der Natur tritt in den Hintergrund.«
Hermann erwiderte: »Die Aufteilung erinnert mich an bunte Glasfenster, sogar die schwarzen Bleifassungen sind hier als Ränder zu sehen. Warum nennt sich die Gruppe ›Blauer Reiter‹?«
Walden erklärte: »Franz Marc hat bis vor Kurzem impressionistische Landschaften gemalt, aber durch den Kontakt mit den russischen Malern Jawlensky und Kandinsky haben sich sein Malstil und der Inhalt seiner Gemälde verändert. Marc lebt auf einem Bauernhof in Bayern, sein Sujet ist die Erlebniswirklichkeit der Tiere. Er wagt es, die Pferde blau zu malen oder umgibt sie mit einer unwirklichen Farbenpracht, die seine Metapher für Imagination ist. Marc liebt Pferde, Kandinsky Reiter und die Farbe Blau gefällt ihnen beiden, voilà so entstand der Name für die gemeinsame Ausstellung.«
Die Farbenpracht der Bilder beschäftigte Bode, er blätterte in einem Heft, in dem die Künstler über die Anarchie in der Kunst und der neuen Musik schrieben, und sagte zu Mary: »Diese Künstler sollten wir uns merken. Hast du mit deinen Freunden in Askona über die Darstellung von Bewegung gesprochen, die in diesen Bildern einen Spannungsbogen zu deiner Arbeit im Bühnenraum aufzeigt?«
Julia hatte nichts dagegen, dass ihr Mann mit Mary zu Ausstellungen reiste. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihre Kinder während ihrer Abwesenheit unbeaufsichtigt von Dienstboten betreut wurden. Zusammen mit ihrer Schwester Stanzi besuchte sie die Veranstaltungen des Hannoveraner Frauenvereins für Frauenkleidung und Frauenkultur, in denen viel über alternative Erziehung und Pädagogik gesprochen wurde. Hier traf sie Elli Beindorff, die Tochter von Günther Wagner, dem Eigentümer der Pelikan-Fabrik. Die Damen setzten sich gemeinsam für die Rechte der Frauen ein. Zuerst ging es um die Abschaffung des Korsetts, um Kindbetthygiene und die Unterstützung von Kinderreichen, bei denen der Ernährer durch Unfall oder Krieg verstorben war. Später forderte der Frauenverein, ähnlich wie die Suffragetten in London, das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Frauen. Im Zuge der Novemberrevolution 1918 konnten sie das Frauenwahlrecht tatsächlich durchsetzen. Die Frauen entwickelten eine Solidarität, die ihnen erlaubte, gegen die dominanten Männer aufzubegehren, darüber hinaus half man einander in Notsituationen. Die Damen aus den reichen Familien hielten es für ihre Pflicht, den Armen zu helfen. Elli Beindorff war eine kultivierte und warmherzige Person, die von ihren Eltern zur Wohltätigkeit erzogen worden war.
Der Erste Weltkrieg
1914–1918
Das unbeschwerte Leben war zu Ende, als Hermann Bode bei Kriegsausbruch 1914 im Zuge der Mobilmachung zum Landwehr-Infanterieregiment Nr. 73 eingezogen wurde. Vor seiner Abreise wurden drei Fotos gemacht. Auf dem ersten sieht man ihn in einer grauen Uniform mit Pickelhaube und Säbel hinter seiner Frau Julia stehen. Auf dem zweiten sitzen die Mädchen in weißen Kleidern um den Vater herum und das dritte vereint ihn mit seinen Eltern und dem Hund Fels, der der Gruppe zu Füßen liegt. Diese Bilder sollten Hermann im Krieg beschützen und wenn er fiele, eine bleibende Erinnerung sein. In einem langen grauen Mantel, bewaffnet mit Mauser-Gewehr und Pistole, verließ der Mann das Haus.
Seit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870 / 71 und den antinapoleonischen Befreiungskriegen galt der Nachbar Frankreich als Erbfeind. Als preußischer Staatsbürger war Bode ein Untertan