Bode war auf einem Bauernhof in Burgwedel aufgewachsen, sie war ein mütterlicher Typ und deshalb kamen die Patienten des Vaters zuerst in ihre Küche, um dann beruhigt und getröstet den Weg in das gefürchtete Sprechzimmer zu wagen, wo sie durch die geschickte Behandlung des Baders, der eine würdige und patriarchalische Ausstrahlung hatte, nicht enttäuscht wurden. Die Mutter besorgte den Haushalt und kümmerte sich um die Zahntechniker, zwei junge Leute, die im Haus wohnten und zusätzlich verpflegt wurden. Als die Praxis gut lief, versuchte der Vater, seine Frau von den Kostgängern abzubringen, aber sie wollte dabei bleiben, weil das Geld, das sie verdiente, ein Zuschuss zu ihrer Haushaltskasse war. Bei den Bodes mussten die Mahlzeiten reichhaltig sein. An den Sonntagen gab es saftigen Braten mit Beilagen und werktags frisches Gemüse, es schmeckte den Kindern nirgendwo so gut wie zu Hause. Der dünn ausgewalzte Zuckerkuchen und der schmackhafte Zwetschgenkuchen mit Eierguss ließen Mary und Hermann das Wasser im Munde zusammenlaufen. Im rückwärts gelegenen Garten befand sich eine Tischlerwerkstatt, in deren Lagerraum die Kinder spielen durften und im Treppenhaus hing eine Schaukel, mit der man weit über das Treppengeländer hinaus fliegen konnte. An den Waschtagen stand Auguste neben dem Dienstmädchen am Waschkessel, der mit Holz beheizt wurde. Wenn die Kinder morgens vor der Schule ihren Abschiedsgruß über die Kellertreppe hinab riefen, kam ihnen der dichte Nebel aus der Waschküche entgegen, und die Mutter erwiderte: »Geht mit Gott, aber geht!«
Die Großmutter in Burgwedel baute Leinen an, welches im Winter versponnen und anschließend im Haus zu Weißwäsche verarbeitet wurde. Sämtliche Kleidungsstücke wurden von den Frauen angefertigt, auch die Anzüge der Buben, die sie der Reihe nach vom Ältesten bis zum Jüngsten auftragen mussten. Hermann kam sich oftmals schäbig und ärmlich gekleidet vor, wenn er auf die modischen Anzüge seiner Mitschüler schaute. Der Vater legte einen militärischen Maßstab an das Auftreten der Söhne, er duldete nicht, dass sie sich in ihrer Haltung vernachlässigten. Durch die sparsame Wirtschaftsführung der Eltern entstand im Laufe der Zeit ein bescheidener Wohlstand. Die Mutter legte Wert darauf, dass nur gediegene Ware gekauft wurde. »Das Teuerste ist meist das Billigste«, sagte sie und die Söhne mussten zu ihrem Leidwesen feststellen, dass die Kleidung immer wieder repariert und gestopft wurde, bevor es etwas Neues gab. Man legte Wert auf Geselligkeit im Hause Bode, die Kinder durften Freunde einladen und zu den Geburtstagen der Eltern kamen mehr als 30 Verwandte zu Besuch. Sie versammelten sich nachmittags zu Kaffee und Kuchen und blieben bis zum Abendbrot. Dann tischte die Hausfrau das Beste aus ihrer Küche auf und drängte die Gäste dazu, ordentlich zuzugreifen, wie sie es bei ihrer Mutter gelernt hatte, die eine lebenslustige und großzügige Bäuerin war. Mit ihrer strahlenden Fröhlichkeit war Auguste der natürliche Mittelpunkt der Gesellschaft, während Vater Friedrich meist würdig und zurückhaltend in seinem Ohrensessel saß. Streitigkeiten zwischen den Söhnen wurden nicht geduldet, die vier Brüder verstanden sich gut, sie musizierten zusammen und Hermann trat schon als Jugendlicher mit seinen Reimen hervor. So schenkte er der Mutter folgendes Gedicht:
Sie ist gedrungen, voll und kräftig,erst schön im schlichten Arbeitskleid,in ihrem Hause stets geschäftig,doch brauchst du sie, hat sie auch Zeit.Sie hört dir zu und weiß zu raten,und zwischendurch, wie sich’s so hat,begießt im Herde sie den Bratenund streicht dem Kind die Haare glatt.
Es erfüllte die Eltern mit Stolz, dass sie genug Geld verdienten, um den Söhnen ein Studium an der Universität zu ermöglichen. Wilhelm studierte Medizin und wurde Arzt, Karl entschied sich für evangelische Theologie, um Pastor zu werden, und Hugo erlernte in Berlin den Beruf des Kaufmanns. Nach Beendigung seiner Ausbildung schickte ihn der Reifenhersteller Continental nach East London in Südafrika, wo er den Rest seines Lebens blieb. Keiner der Brüder wollte die Praxis des Vaters übernehmen. Dem Jüngsten ließen die Eltern keine Wahl, er musste Zahnmedizin studieren. Der Sturm und Drang verherrlichte das Originalgenie als Urbild des höheren Menschen und des Künstlers. Vor diesem Hintergrund wollte Hermann einen künstlerischen Beruf erlernen und Musiker werden. Dieses Ansinnen wurde vom Vater brüsk zurückgewiesen, er sprach von einer brotlosen Kunst, mit der man den Eltern zur Last falle. Kinder aus reichem Hause konnten Künstler werden, für Menschen, die von ihrer Hände Arbeit leben mussten, war die Kunst ein Luxus oder eine Tändelei für die Bourgeoisie.
Hermanns Berufsausbildung begann mit einer sechsmonatigen Lehrzeit in der technischen Werkstatt von Dr. Hausmann. Die vier Söhne hielten Briefkontakt mit der Mutter, sie waren gut darüber informiert, was in Hannover passierte. Auguste verlangte, dass sie ihre Wäsche nach Hause schickten, damit sie schonend gewaschen und rechtzeitig ausgebessert und ergänzt werden konnte. Wenn diese Pakete zurückkamen, enthielten sie köstliche Zugaben aus Mutters Backstube.
Die Wege von Mary und Hermann trennten sich für fünf Jahre, sie kam in ein Mädchenpensionat nach England und er ging zum Studium an die Universität Berlin und anschließend an die Universität München, wo er im Dezember 1902 das zahnärztliche Staatsexamen machte. Während dieser Zeit pflegten die beiden eine rege Korrespondenz. Hermann schickte der Freundin unter anderem wertvolle Bücher, um sich mit ihr über deren Inhalt auszutauschen. Mit zahlreichen Randbemerkungen versehen, wurden Nietzsches Zarathustra und die Fröhliche Wissenschaft hin- und hergeschickt. Die Jugendfreunde beschrieben ihre Konzert- und Theaterbesuche und ließen einander teilhaben an neuen Erkenntnissen zu Buddhismus und Astrologie. Im Vollgefühl ihrer Jugend vermochte ihnen der lutherische Glauben nicht mehr zu genügen und sie suchten nach anderen und neuen Vorbildern, die sie für zeitgemäß hielten. Der Sturm und Drang mit seinem innigen Sich-Einfühlen in die Natur war für beide die Grundvoraussetzung, um den Sinn des Lebens und das Wesen menschlicher Existenz begreifen zu können. Hermann und Mary glaubten fest daran, dass das schöpferische Individuum sein Erleben in eine künstlerische Form bringen kann, um eine bessere Lebensform für alle Menschen zu erfinden.
Bei einem Hausball der Wigmanns trafen sich die Freunde wieder, aus Mary war eine junge Dame der Boheme geworden. Von diesem Fest gibt es ein Foto, auf dem sie schlank und selbstbewusst in die Kamera blickt. Die 19-Jährige hat ein bodenlanges weißes Spitzenkleid mit hochgeschlossenem Kragen an. Auffallend breite schwarze Augenbrauen betonen ihre ernsten Augen, die mit einem dunklen Lidstrich umrandet sind. Die Nase wirkt schmal, der geschminkte Mund lächelt mit vollen Lippen. Marys Erscheinung löste bei Hermann ein erotisches Verlangen aus, das die Geste des Beschützers noch verstärkte. Die stolze Freundin entzog sich seinen Annäherungsversuchen, sie war an einer Eheschließung oder der Gründung einer Familie nicht interessiert. Mary wollte auf einer Bühne stehen und tanzen wie Isadora Duncan. Über all die Jahre hielt ihre enge Freundschaft aus Kindertagen und sie trafen sich jedes Jahr zum Weihnachtsfest im Elternhaus. Hermann übernahm eine zahnärztliche Vertretung in Freiburg und verbrachte seine Assistenzzeit in Vevey am Genfer See und anschließend in Mailand. Nur ungern kam er nach Hannover zurück, um bei dem Infanterie-Regiment Nr. 74 als Einjähriger zu dienen.
In dieser Zeit machten Wilhelm, Karl, Hermann und Mary zu Ostern eine gemeinsame Reise nach Dresden, wo sie die Frauenkirche, den Zwinger und das Grüne Gewölbe, die Schatzkammer August des Starken, besuchten. Sie standen zwischen verspiegelten Wänden, auf goldenen Konsolen wurden Elfenbein, Porzellan, Edelsteine und Perlmutt ausgestellt und Hermann wandte sich an die Freundin: »Von all dem Zuckerguss wird mir übel, lass uns irgendwas Modernes in der Gemäldegalerie anschauen.«
Diesen Ausspruch hörte ein Aufseher und sagte: »Da kann ich Ihnen eine Empfehlung geben. In der Berliner Straße in Friedrichstadt haben die jungen »Brücke«-Künstler ihr Atelier, fahren Sie doch einfach mal hin.«
In einem leer stehenden Fleischerladen hatten die Künstler Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff ihre Bilder untergestellt und Kirchner wohnte dort. Erfreut über die zahlreichen Besucher zeigte er seine Gemälde und die seiner Kollegen. Ein wilder Reigen von Motiven bot sich dem Auge, die figurative Malerei war stark konturiert und in kräftigen Farben völlig unakademisch ausgeführt. Es gab Landschaften, ein Zirkusbild und Aktbilder, von denen das, eines nackten Mädchens besonders provokant wirkte. Hermann fragte: »Haben sie eine Akademie besucht?«
Kirchner gab zur Antwort: »Nein, wir sind Autodidakten und halten das für unsere Stärke!«
Auf dem Tisch lag Nietzsches Zarathustra und Mary jubelte erfreut:
»Sie lesen mein Lieblingsbuch! Und was sagen Sie