Sinda Dimroth

Die Kunst ist das Einzige, was bleibt


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und einem Diener, wobei er sich am Flügel festhielt. Anschließend traten die fünf Enkel dem Alter nach vor, um ihren Beitrag zum Festtag abzuliefern. Frowis, die Älteste, überreichte ein in Goldfolie gebundenes Heftchen, in welches sie mit Schönschrift einige Gedichte geschrieben hatte. Die Zartbesaitete war der Liebling des Großvaters. Mit kaum vernehmbarem Stimmchen rezitierte sie eine mehrstrophige Ballade und blieb nach dem dritten Vers hängen, woraufhin sie bitterlich zu heulen anfing. Bode nahm die 18-Jährige liebevoll tröstend in den Arm und Selma hatte den Eindruck, dass sie einer Inszenierung beiwohnte, bei der die Cousine Aufmerksamkeit erregen wollte. Ruthilde, die eine Zahnspange tragen musste, grinste unnatürlich, als sie an die Reihe kam, um ihr mit Bast umwickeltes Pferdchen zu überreichen. Sie hatte eine Bassflöte im Schrank entdeckt und eine Melodie einstudiert, welche sie fehlerlos vortrug. Der blonde Eckbert in seiner kurzen Lederhose trat vor, überreichte ein selbstgefertigtes Holzschiffchen mit Segel und zog sich schnellstmöglich hinter die Reihe der Mädchen zurück. Die 14-jährige Luitgard hatte Bodes Weisheitsbuch in Leder gebunden und es war deutlich zu sehen, dass der Beschenkte sich ernsthaft darüber freute. Selma hatte eine Burg mit Burgfräulein gemalt und das Kunstwerk mit einigen Gänseblümchen beklebt. Es hatte ihr die Sprache verschlagen, doch hinter dem Rücken des Jubilars formte Ilse lautlos die Worte, die sie nachsprechen sollte, deshalb wurde auch diese Hürde genommen. Der Großvater beugte sich gerührt zu jedem Kind hinunter und bedankte sich aufs Innigste. Dann kamen die Erwachsenen an die Reihe. Erkengard, Roswitha, Ilse, Lina und Cousine Uli, es waren ausschließlich Frauen anwesend, die zuerst einen Knicks machten, etwas Gereimtes vortrugen und errötend ihre Liebe und Zuneigung zum Ausdruck brachten. Der alte Herr genoss diese Liebesbekundungen, umarmte jede und küsste sie mit gespitzten Lippen auf die Wange. Die dargebrachten Geschenke wurden auf dem Flügel ausgebreitet und vom Großvater mit zarter Hand arrangiert. Ilse ließ Haydns Hochzeitsmarsch anklingen, um den musikalischen Teil des Abends anzukündigen. Nachdem alle Kinder gemeinsam einen Flötenkanon vorgetragen hatten, holte Eckbert seine Alt-Blockflöte und spielte mit der Mutter ein Menuett von Georg Philipp Telemann. Lina brachte ein Tablett mit kleinen pikanten Häppchen ins Zimmer, es wurde Wein gereicht und für die Kinder Limonade. Die Sonne war hinter dem Wilhelmstein untergegangen und der See verschwand in der Dunkelheit, als eine leuchtende Rakete in den Nachthimmel zischte. Von einem Torfkahn stiegen Lichtkaskaden auf und fielen dann wie blitzender Regen herab. Das Seewasser färbte sich unheimlich braun, als eine Unterwasserrakete abgeschossen wurde und langsam verglimmte. Als es wieder ganz dunkel geworden war, setzten die Fischer Papierschiffchen aus, in denen 74 Kerzen brannten. Wie kleine Glühwürmchen schaukelten die Lichter auf den Wellen, bis sie nach und nach verlöschten und versanken. Bei den letzten zählte Bode mit und sagte:

       Heißt du das Lichtlein schweigen,das deinen Kreis erhellt,so wird die Nacht dir zeigen,den Wunderglanz der Welt.«

      Kurz bevor alle ins Bett gehen wollten, erschien ein dunkler Schatten im spärlich erleuchteten Wohnzimmer. Der Schatten legte von hinten seine Hände über die Augen des Jubilars, der sofort sagte: »Mary – Oh Mary, mein Engel.« Er erhob sich vom Sessel und die beiden Schatten verschmolzen für einige Zeit zu einem. Dann wandte sich Mary Wigman um und bewegte sich anmutig auf Ilse zu, die sie umarmte und auf die Wangen küsste. Das Licht wurde angeknipst, deshalb konnte man das verräterische Rot der inneren Erregung auf Bodes Gesicht sehen. Er war überrascht vom Besuch der Freundin, ihr Erscheinen war ein Zeichen innerer Verbundenheit und lebenslanger Treue. Ilse reichte jedem Erwachsenen ein Glas Weißwein und mit dem Alkohol und den lebhaften Erzählungen der Tänzerin entspannte sich die steife Atmosphäre. Die Enkelkinder wurden ins Bett geschickt, als die pikanteren Geschichten zur Sprache kamen, die nach Ansicht des Großvaters für Kinderohren ungeeignet waren.

      Am nächsten Morgen saß Selma bereits zeitig am Frühstückstisch und blätterte in der Fernsehzeitung, als Bode streng gescheitelt den Raum betrat. Er riss dem Mädchen die Zeitung aus der Hand und sagte zornig: »Das ist keine Lektüre für Kinder, ich wünsche nicht, dass du in Illustrierten blätterst.«

      Eingeschüchtert verdrückte sich Selma in die Küche, wo sie von Lina beruhigt wurde. Kurz darauf erschien auch die späte Besucherin im Esszimmer und setzte sich neben Bode. Mary hatte kinnlange schwarze Haare, blaugraue Augen und ein asketisches Gesicht. Mit ihren langen dünnen Fingern köpfte sie graziös das Frühstücksei und sprach mit tiefer ruhiger Stimme. Sie war dem Jubilar liebevoll zugewandt und wollte von ihm wissen: »Was hältst du von dem Einfluss der amerikanischen Popkultur auf die Lebensart und Sprache der Deutschen?«

      Bode machte ein angewidertes Gesicht und meinte: »Es handelt sich um eine Popkulturindustrie. Durch die Massenproduktion ist alles gleichartig und auf den wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet. Wenn wir das übernehmen, verarmt unsere eigene Kultur. Authentische Kultur ist individuell und hat ihren Wert in sich selbst, sie gibt Anregungen und befördert das Nachdenken. Die Pop-Art erinnert mich an Mickymaus-Heftchen, die Bilder sind anspruchslos, plakativ und am Konsum orientiert. Die Musik ist eintönig, die Schlagertexte sind banal und Coca-Cola ist ungesund.«

      Mary erwiderte: »Andy Warhol sagt: ›good business is the best art‹« und Ilse schüttelte verneinend den Kopf: »Boogie Woogie ist doch irgendwie frech. Was der Pianist am Klavier vollbringt, finde ich einfach toll! Wenn die Kinder mit der Leichtigkeit des amerikanischen Lebensstils das Kriegstrauma verarbeiten können, soll’s mir Recht sein.«

      Mary fügte hinzu: »Boogie Woogie ist tänzerisch sogar ziemlich anspruchsvoll, es beeindruckt mich, wie die Männer ihre Partnerin zwischen den Beinen durch und über die Schulter schleudern.«

      Bode beendete das in seinen Augen leidige Thema: »Die Sieger sind immer im Besitz der Wahrheit und das wird auf die Kunst übertragen. Mich interessiert vielmehr, wie Mary ihren Auftritt in New York erlebt hat?«

      Die Angesprochene lächelte: »Vor der Carnegie Hall hing ein 10 Meter hohes Plakat, auf dem ich als Hexe abgebildet war, das hat mich dermaßen eingeschüchtert, dass ich schreckliches Lampenfieber hatte. Mit meiner Truppe lief es ganz gut und der Applaus war überwältigend. New York ist eine wundervolle, energiegeladene Stadt, warum reist ihr beiden nicht auch einmal in die neue Welt?«

      Bode erhob sich, für ihn war das Frühstück beendet: »Mich lockt nur wenig über den großen Teich, ich habe gehört, dass die moderne Kunst, die die Nazis aus den Museen entfernt haben, jetzt in den Washingtoner Privatsammlungen wieder auftaucht.« Die Erwachsenen stiegen die Treppe hinauf und verschwanden in den Privatgemächern, die Kinder hörten nur noch: »Das Museum of Modern Art in New York hat angeblich die wertvollsten Stücke zusammengetragen, das würde mich schon interessieren.« Als das Mittagessen aufgetragen wurde, war Mary schon wieder abgereist. Die bayerischen Schulferien neigten sich dem Ende zu. Die ersten Herbststürme peitschten über das Steinhuder Meer und die Mädchen konnten nicht mehr hinaus aufs Wasser. Schließlich brachte Ilse sie in Hannover an den Zug und steckte jedem zum Abschied einen Geldschein zu.

      Julia

      1905–1923

      Hermann Bode wurde am 21. August 1882 in Hannover geboren, er war der Sohn von Hermann Friedrich Bode und seiner Frau Auguste. Der Vater diente im Deutsch-Französischen Krieg 1870 / 71 als preußischer Ulan im Garnisonslazarett und durfte nach dem Baderexamen alle zahnärztlichen Operationen ausführen. In seiner Praxis für Zahnheilkunde lernte er Auguste Henneberg kennen und nahm sie wenig später zur Frau. Das Ehepaar Bode hatte vier Söhne, der älteste hieß Wilhelm und war sieben, Karl war fünf und Hugo drei Jahre alt, als Hermann geboren wurde. Die Familie wohnte in der Schmiedestraße 33, im Zentrum von Hannover, nicht weit entfernt von der Marktkirche und dem Flussufer der Leine. Die Praxisräume lagen im ersten Stock des Wohnhauses, die Familie bewohnte das zweite Geschoss und hatte drei ausgebaute Dachzimmer für Lehrlinge angemietet. Im Hochparterre befand sich das Ladengeschäft der Firma Wiegmann, die Nähmaschinen und Fahrräder verkauften. Die Wiegmanns hatten drei Kinder, Marie, Heinrich und Elisabeth. Ihre Wohnung lag hinter dem Verkaufsraum. Marie, die Älteste, wurde Mary gerufen, weil man in Hannover stolz darauf war, dass das Haus Hannover seit 1714 England regierte und Königin Victoria mit Albert von Sachsen-Coburg und Gotha vermählt war. Mary war vier Jahre jünger als Hermann und blickte bewundernd zu ihm auf. Als sie neun Jahre alt war, starb ihr Vater, und Hermann fühlte sich berufen, die Freundin von