Sie uns mal ganz anders denken: Wie wäre es, wenn unsere Kinder keine emotionalen Defizite mehr mit Konsum kompensieren müssten? Wie wäre es, wenn unsere Kinder eine neue Kultur der Solidarität, sozialen Gerechtigkeit und eines sicheren Lebens für alle leben könnten? Wie wäre es, wenn sie von sich aus davon ausgingen, dass sie es wert sind, saubere Luft, saubere Böden, gesundes Essen zu haben – und dass sie das ohne Ängste mit allen Mitmenschen auf dem Planeten teilen könnten, weil genug für alle da ist?
Der Einzelne ist mit der Bewältigung von komplexen Problemlagen wie dem Klimaschutz überfordert. Aber es ist ja nicht unser Job, die Welt allein zu retten.
Wie wäre es, wenn unsere Kinder später mal Leute cool fänden, die eben keinen dicken Geländewagen durch die Stadt fahren, sondern die wenig arbeiten und viel Zeit haben, die sich ehrenamtlich engagieren, nie gestresst sind und lieber kurz vorbeikommen und klingeln, als zehn Kurznachrichten zu schicken?
Wie wäre es, wenn unsere Kinder es wieder cool fänden, wählen zu gehen, etwas zu bewegen, und wenn sie in einer Umgebung aufwüchsen, die es ihnen leicht macht, Autos zu teilen, Abfall zu vermeiden und Fahrrad zu fahren? Wenn wir aufhören könnten, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil es uns die Welt leicht macht, das Richtige zu tun?19 Denn wir alle wollen das Richtige, doch »der Einzelne ist mit der Bewältigung von komplexen Problemlagen wie dem Klimaschutz überfordert«20 – und es ist auch nicht unser Job, die Welt allein zu retten. Aber etwas anderes können wir. Wir können die Generation heranziehen, für die das alles selbstverständlich ist. Denn deren Erziehung wird auch das nächste Jahrhundert prägen.
Wem das zu utopisch ist, der sei an eine sehr alte Erkenntnis aus der Soziologie erinnert, nämlich dass Psychogenese und Soziogenese zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Psychogenese beschreibt, wie menschliches Verhalten, Affekte und Empfindungen entstehen und sich verändern. Unsere Psychogenese sah der deutsche Soziologe Norbert Elias als einen Grundpfeiler unserer Zivilisation21 – wie wir uns verhalten, was wir fühlen und wie wir reagieren, macht aus, ob wir in einer Gesellschaft voller Solidarität oder Egoismus, Rechtsstaatlichkeit oder Willkür, Nachhaltigkeit oder Wachstum leben. Elias sagte, die Gesellschaftsform, in die wir hineingeboren seien, präge unsere Psyche. Aber es gilt auch andersherum: Mit unserer Psyche prägen wir die Gesellschaft, in der wir leben! Wir wirken also auf sie zurück – wir, unsere Kinder und unsere Kindeskinder. Wenn wir eine neue Kultur erschaffen wollen, dann ist es klug, in den kleinen Seelen damit anzufangen.
Die Erziehung unserer Kinder wird die Gesellschaft unseres Jahrhunderts prägen.
Das Gleiche gilt übrigens für Infrastrukturen: Wie wir leben, wohnen, arbeiten, uns ernähren und unsere Freizeit verbringen, prägt nicht nur die Infrastruktur, die wir dafür aufbauen (Straßen, Flughäfen, Rad- und Wasserwege). Die Infrastrukturen prägen auch uns, sie werden sozusagen zu »mentalen Infrastrukturen«, zu inneren Vorstellungen davon, wie die Welt zu sein hat.22 Das macht es einerseits so schwer, Infrastrukturen (zum Beispiel die heute völlig auf den Autoverkehr ausgerichteten Städte) zu verändern, gleichzeitig werden diese Gemeinschaftseinrichtungen sich sofort verändern, wenn wir neue innere Bilder erschaffen.
Und wo könnten wir diese Bilder besser erschaffen als in der Erziehung unserer Kinder? Also schauen wir uns die Bilder doch noch mal an, mit denen wir bisher gearbeitet haben, und holen uns dann neue Perspektiven.
WAS IST DER RICHTIGE WEG? UNSER NORDSTERN
Wussten Sie schon, dass es Neugeborene gibt, die bereits krabbeln? Dass manche Säuglinge nach nur wenigen Monaten laufen? Und zahlreiche Babys niemals Windeln tragen?
Ebenso wie viele von uns sich heute keine Welt mehr ohne Autos, Braunkohlekraftwerke und Wachstum vorzustellen vermögen, können wir uns oft gar nicht ausmalen, was bei Babys und Kleinkindern alles möglich ist. Denn wie wir erziehen, hat viel mit unserem Weltbild zu tun.
Ist der Mensch gut oder böse?
Alle Erziehung beginnt mit der Frage, ob der Mensch an sich gut oder böse ist. Viele christliche Völker glaubten traditionellerweise, wir würden »in Sünde geboren« und bräuchten Eltern, die uns den »Versuchungen des Teufels« mit Strenge und zur Not auch Gewalt entziehen. Schon Neugeborene und Kleinkinder müssten hier früh abgehärtet werden und lernen, sich zu fügen und gottesfürchtig zu sein.
Im traditionellen Bali gilt das genaue Gegenteil: Hier werden Babys als kleine Götter oder zumindest als Reinkarnationen der Ahnen verehrt. Dementsprechend sollen Neugeborene nach balinesischen Regeln in den ersten Wochen ihres Lebens zum Beispiel auf keinen Fall den – unreinen – Boden berühren. Einen Säugling abzulegen oder gar allein zu lassen wäre völlig undenkbar. Tja, was ist ein Baby nun: Gott oder Teufel? Sollen wir sofort reagieren oder es warten lassen? Wenn wir die Kulturen fragen, bekommen wir völlig unterschiedliche Antworten.
Welches Verhalten der Kinder wird belohnt?
Wir verstärken Verhalten, indem wir darauf reagieren, also lautet eine wichtige Frage: Worauf reagieren wir? Deutsche Mütter antworten eher auf positive Signale ihrer Babys, wenn die Babys lachen, glucksen oder »kieksen«. Beim Volk der Kisii in Westkenia beobachteten Anthropologen, dass sich Mütter von einem laut lachenden oder wild gestikulierenden Baby eher abwenden. Warum? Weil sie keine individualistischen oder extravertierten Kinder erziehen wollen – genau das Gegenteil dessen, was deutsche Eltern anstreben.23
Und selbst bei der motorischen Entwicklung, die man ja nun noch weniger der Kultur und mehr der Biologie zuordnen könnte, sind sich die Völker nicht einig.
In westlichen Gesellschaften haben Babys weniger Körperkontakt, dafür werden sie viel ermuntert, sich allein zu bewegen. Auch die Völker der !Kung in der südlichen Kalahari (südliches Afrika) haben ein großes Interesse daran, dass die Babys früh laufen lernen, und das Training der Beine gehört zum traditionellen Bewegungsspiel mit Kleinkindern. Das wiederum lässt so manchen westlichen Kinderarzt erbleichen: »Die Knochen sind noch zu weich«, hört man hierzulande. So glauben die !Kung, dass weiche Knochen erst vom Training fest werden, und sie behalten recht: Die meisten ihrer Kinder laufen bereits mit neun Monaten die ersten Schritte – für dieses auf dem afrikanischen Kontinent an vielen Orten berichtete Phänomen gibt es sogar einen Fachbegriff: »afrikanische Frühreife«.
Geschwisterabstand als urbane Legende
In westlichen Gesellschaften pflegt man die Ansicht, es sei gut, Geschwister so nah aneinander wie möglich zu bekommen, weil sie dann angeblich toll miteinander spielen und man die Arbeit »in einem Rutsch« erledigt habe. Außerdem würde sich das große Kind dann gar nicht erst daran erinnern, ein Einzelkind gewesen zu sein. Nichts davon ist belegt, und viele Eltern merken nach dem ersten Mal sehr schnell, dass das keine so gute Idee war (weswegen das dritte Kind dann oft erst drei bis fünf Jahre später kommt).
Was »richtig« für ein Baby ist, entscheidet jede Kultur für sich neu.
So eigenartig diese Unterschiede uns erscheinen, so haben sie doch oft einen Sinn: In einem dicht bewachsenen Gebiet wie dem der zentralafrikanischen Aka-Pygmäen geht ein laufendes Kleinkind viel eher verloren als in der Savanne bei vielen !Kung-Gruppen, daher hat niemand ein Interesse daran, dass es früh läuft. Und ob ein Kind direkt angesprochen wird oder eher »mitläuft«, legt schon früh fest, wie viel Aufmerksamkeit es als Kleinkind einfordert und braucht, wie stark sich sein »Ich-Gefühl« entwickelt und wie gut es sich in eine Gruppe eingliedern kann.
Wenn wir uns fragen, was »richtig« für Kinder ist, müssen wir uns also immer vor Augen halten, dass wir mit der Brille unserer Kultur auf alles schauen, was wir sehen. Die Forscherin Heidi Keller beschäftigt sich seit den Siebzigerjahren mit der Frage, was in unserer Biologie liegt und was uns die Kultur darüber sagt, wie wir mit Kindern »richtig« umgehen sollen.
Eltern der Nso in Kamerun und Mütter im indischen Bundesstaat Gujarat haben zum Beispiel laut einer ihrer Studien viel und häufig Körperkontakt